Am 9. Oktober steht die DDR am Rande eines Bürgerkriegs. Der 40. Jahrestag der Staatsgründung, den die SED-Führung zwei Tage zuvor noch mit großem Pomp gefeiert hat, der aber auch von heftigen Protesten begleitet wurde, ist vorbei, nun gibt es keinen Grund mehr zur Rücksichtnahme.

Am 8. Oktober erlässt der gesundheitlich angeschlagene Partei- und Staatschef Erich Honecker einen Befehl zum harten Durchgreifen. Per Fernschreiben werden die Ersten Sekretäre der 15 SED-Bezirksleitungen angewiesen, "weitere Krawalle von vornherein zu unterbinden". Auch Helmut Hackenberg, SED-Chef von Leipzig, leitet entsprechende Maßnahmen ein. Armee, Bereitschaftspolizei, Volkspolizei und die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse", eine paramilitärische Miliz, werden auf einen gewaltsamen Einsatz vorbereitet. In Leipzigs Krankenhäusern stehen 2500 zusätzliche Blutkonserven bereit.

Am Morgen des 9. Oktober empfängt Egon Krenz, der im Politbüro für Sicherheit zuständig ist, den Leipziger Jugendforscher Walter Friedrich, der ihn eindringlich vor dem Einsatz von Gewalt warnt. Später wird Krenz behaupten, die Sicherheitsorgane seien von vornherein zu deeskalierendem Verhalten angewiesen gewesen ...

In Leipzig warten rings um den Innenstadtring Tausende Soldaten und Polizisten auf ihren Einsatzbefehl. Völlig überraschend sendet der Stadtfunk gegen 18 Uhr über seine Lautsprechersäulen einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit, den nicht nur drei prominente Bürger, sondern auch drei hohe SED-Funktionäre unterschrieben haben. Honecker erfährt erst am nächsten Morgen davon. Schon am Nachmittag befinden sich Zigtausende Demonstranten in der Innenstadt, viel mehr, als Hackenberg vermutet hat. Der Leipziger SED-Chef weiß nun genau, dass die Abschreckung nicht funktioniert und dass es beim Einsatz von Gewalt ein Blutbad geben würde. Er ruft in Berlin an, um sich rückzuversichern, aber Krenz ist nicht erreichbar. Hackenberg bittet dringend um sofortigen Rückruf, aber Krenz geht auf Tauchstation.

Inzwischen zieht der Demonstrationszug schon um den Leipziger Innenstadtring. 70 000 Menschen rufen "Keine Gewalt" und legen den gesamten innerstädtischen Verkehr lahm. Als Krenz noch immer nicht zurückruft, ordnet Hackenberg um 18.35 Uhr selbst den Rückzug an. Die Einsatzkräfte erhalten den Befehl, nur bei "Angriffen auf Sicherungskräfte, Objekte und Einrichtungen" mit Gewalt zu antworten. Als Egon Krenz um 19.30 Uhr endlich zurückruft, sind die Würfel längst gefallen. Die Demonstranten haben den Ring geschlossen. "Nu brauchen se nich mehr anzurufen, nu sind se rum", kommentiert Hackenberg in schönstem Sächsisch die verspätete Reaktion von Krenz, der Hackenbergs Strategie im Nachhinein billigt.

Warum der 9. Oktober 1989 in Leipzig friedlich verlief? Weil die SED nicht mit 70 000 friedlichen Demonstranten gerechnet hat - und niemand die Verantwortung für den Einssatzbefehl übernehmen wollte.