Auf dem Parteitag 2003 in Leipzig kündigte die CDU-Vorsitzende ein Programm an, das die FDP heute noch will. Die Kanzlerin allerdings nicht.

Berlin. Kurz vor der Bundestagswahl machte der Londoner "Economist" mit einer Fotomontage auf: Angela Merkel, gefangen in einem goldenen Käfig, darunter die Zeile: "Befreit Angela!" Tenor der auch in Deutschland beachteten Geschichte war: Bald ist die deutsche Kanzlerin nicht mehr Gefangene der SPD in der Großen Koalition - in ihrer zweiten Amtszeit wird sie tun, was sie im Dezember 2003 in Leipzig angekündigt hat.

Auf jenem legendären Parteitag, der als Reformparteitag in die Geschichte der CDU einging. Auf dem Angela Merkel den Christdemokraten ein Programm servierte, das sie dann 2005 fast den Wahlsieg kostete. Darin enthalten war die Rente mit 67 und eine Kopfpauschale in der Krankenversicherung. Dazu ein dreistufiges Steuermodell mit Sätzen von 12, 24 und 36 Prozent. Das galt als neoliberal und war nicht weit weg von dem, was die Liberalen wollen. Ein solches Stufenmodell ist sogar eine der Hauptforderungen, mit denen die FDP-Unterhändler die Union jeden Tag aufs Neue in den Koalitionsverhandlungen konfrontieren. Der liberale Finanzexperte Hermann Otto Solms, der auch neuer Finanzminister werden will, hat es sich persönlich auf die Fahnen geschrieben.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Das Steuerstufenmodell ist so ziemlich das Letzte, was die Kanzlerin im Koalitionsvertrag verankert sehen möchte. Andererseits kämpft Merkel nun entschieden für den Erhalt des mit der SPD konstruierten Gesundheitsfonds, den sie einst selber nicht gewollt hat. Und das gegen eine Front aus CSU und FDP, die in der Koalitionsarbeitsgruppe Gesundheit immer noch nicht klein beigeben wollen. Doch der Gesundheitsfonds wird bleiben. Und statt des Steuerstufenmodells wird es nur eine allgemeine Steuererleichterung geben - die Abmilderung der sogenannten kalten Progression, die alle Lohn- und Gehaltserhöhungen zurzeit quasi auffrisst.

Will Merkel also freiwillig in ihrem Käfig sitzen bleiben? Kann sie sich nicht mehr bewegen oder will sie nicht? Wie es funktioniert, weiß sie doch. "Als Physikerin sage ich: Flügel geben Auftrieb. Als Politikerin sage ich: Das funktioniert aber nur, wenn sie nicht gegeneinander stehen." Das hat Angela Merkel ihren Parteifreunden ja in Leipzig erklärt. Aber auch da hat bereits die Pragmatikerin Angela Merkel gesprochen. Was sie heute mehr denn je ist. Die große Finanz- und Wirtschaftskrise hat die politischen Bedingungen verändert und damit auch Merkels Sicht auf das, was zu tun ist und wie es zu tun ist.

Ist Merkel durch den Zwang des Faktischen von ihren einstigen Überzeugungen abgerückt und auf sozialdemokratische Positionen umgeschwenkt? Oder speist sich ihre vermeintlich mangelnde Reformfreude aus der traumatischen Erfahrung von 2005, als sie mit Ankündigungen wie der Mehrwertsteuererhöhung die Wähler so verschreckte, dass es am Ende nur für eine Große Koalition mit den Sozialdemokraten reichte? Merkel scheint auf dem von der Großen Koalition eingeschlagenen Kurs zu bleiben, obwohl demnächst keine Blockierer mehr am Kabinettstisch sitzen werden, sondern Liberale, die mit ihren Reformplänen bei der Bundestagswahl 15 Prozent der Stimmen gewonnen haben. Liberale, die beim Blick in die Haushaltsbücher erst jetzt anfangen zu begreifen, dass ihre Vorstellungen an Grenzen stoßen. Und zwar an Grenzen, die der Bundeshaushalt vorgibt. Satte 30 Milliarden Euro müssen wegen der beschlossenen Schuldenbremse von der Regierung Merkel/Westerwelle bis 2013 eingespart werden, das engt die Spielräume drastisch ein.

Die Kanzlerin weiß genau: Das Steuerstufenmodell würde zusätzliche Löcher ins Budget reißen. Und zudem für massiven Ärger in der Bevölkerung sorgen, weil mit ihm auch lieb gewonnene Ausnahmeregelungen abgeschafft werden würden: die Pendlerpauschale, das steuerlich abgesetzte Arbeitszimmer, die Wochenend- und Nachtzuschläge. Diesen Ärger will sich Angela Merkel ersparen, wie in diesen Tagen aus ihrer engeren Umgebung zu hören ist. Die FDP wiederum gerät dadurch in Schwierigkeiten. Sie hat im Wahlkampf große Versprechungen gemacht und muss nun den Mitgliedern und den Wählern erklären, warum nicht geht, was monatelang gefordert und angekündigt wurde.

Merkel hat nach Leipzig und vier Jahren im Kanzleramt gelernt, dass es ein Fehler ist, zu konkret zu werden. Auch der Koalitionsvertrag wird deshalb an vielen Stellen schwammig bleiben. Das bestätigen hinter vorgehaltener Hand jene Unionspolitiker, die ihn gerade verhandeln. Gelernt hat Angela Merkel auch, dass es darauf ankommt, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wollte sie in Leipzig den Kündigungsschutz noch auflockern - Guido Westerwelle will das immer noch -, so ist sie inzwischen anderer Ansicht: "Änderungen beim Kündigungsschutz passen angesichts drohender Massenentlassungen nicht in die Zeit", gab Angela Merkel rechtzeitig vor Beginn der Koalitionsverhandlungen zu Protokoll. Ihre Partei verstehe sich sehr wohl auf das Soziale: "Ich wehre mich dagegen, dass bestimmte Begriffe der SPD zugeordnet werden."

Darin zeigte sich auch die Technikerin der Macht, der es bei der Bundestagswahl im September gelungen ist, eine Million SPD-Wähler zu ihrer Partei herüberzuziehen. Angesichts einer SPD, die so geschwächt ist wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte, versucht Angela Merkel, vermeintlich sozialdemokratische Positionen zu besetzen, um der Union dauerhaft ein zusätzliches Wählerpotenzial zu eröffnen.

War dieser Kurs bis zum Wahlabend umstritten, so zeigt sich in der Rückschau, dass Merkel richtig operiert hat. Unangefochten steht sie nun da. Zumal der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, der ihr die Monate vor der Wahl schwer gemacht hatte, mittlerweile um sein politisches Überleben kämpft. Anders als 2003 sind keine Konkurrenten in Sicht. Leipzig war gestern. Merkel kann sich ihrer zweiten Regierungszeit gelassen zuwenden.