Feige Verräter, mutige Helden - die Reaktionen auf die vier Abgeordneten, die Andrea Ypsilanti die Zustimmung verweigert haben, sind heftig. Sind...

Feige Verräter, mutige Helden - die Reaktionen auf die vier Abgeordneten, die Andrea Ypsilanti die Zustimmung verweigert haben, sind heftig. Sind sie Verräter? Sind sie Helden? Oder sind sie Menschen wie du und ich, die um eine Entscheidung gerungen haben? Sie waren doch in die Fraktionsdisziplin eingebunden. Ist dann ihr Verhalten nicht unsolidarisch?

Aber Abgeordnete sind "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", heißt es im Grundgesetz.

Was ist das Gewissen, wenn es noch wichtiger ist als Fraktionsvereinbarungen, wichtiger als der Machtanspruch der eigenen Partei, wichtiger als der Vorteil für die eigene Person? Es wäre besser gewesen, die drei hätten wie Frau Metzger bereits vor Monaten ihre Meinung geäußert. Dadurch wäre Vielen Vieles erspart geblieben. Aber was mache ich, wenn ich in einer Sache noch keine abschließende Meinung habe? Wenn ich hoffe, vielleicht regeln sich die Dinge in meinem Sinne auch ohne mein Eingreifen? Oder wenn ich hin- und hergerissen bin, was denn nun richtig ist?

Ich warte ab. Wäge immer wieder neu das Für und Wider. Letztlich hilft mir kein Fraktionsbeschluss, keine öffentliche Meinung, kein Taktieren, kein noch so gut gemeinter Rat.

Und was hilft? Spätestens jetzt kommt das Gewissen ins Spiel. Das Gewissen wird die vier Abgeordneten an das Wahlversprechen gemahnt haben, auf keinen Fall mit der Linkspartei gemeinsame Sache zu machen. Es wird sie gemahnt haben zu prüfen, ob der Koalitionsvertrag nicht auf tönernen Füßen steht. Es wird sie gemahnt haben, abzuwägen zwischen dem Wohl des Landes, dem Wohl der Partei und dem Wohl von Personen.

Das Gewissen ruft zur Verantwortung. Es drängt zur Antwort in einer konkreten Situation. Keine Antwort ist dann auch einen Antwort. Geleitet wird das Gewissen von den Urteilen der Vernunft und den sittlichen Geboten, die ein Mensch sich zu eigen gemacht hat.

Die vier werden jetzt Abweichler genannt. Die Mehrheit in der Fraktion war anderer Meinung. Hatten diese kein Gewissen? Oder hatten sie ein irrendes Gewissen? Oder sind sie zu einer anderen Gewissensentscheidung gekommen? Das werden sich die Abgeordneten selbst fragen. Und wenn sich später herausstellt, dass die Gewissensentscheidung der vier falsch gewesen wäre? Auch dann mussten sie ihrem Gewissen folgen. Jedenfalls dann, wenn sie nach eingehender Prüfung und möglichst auch nach Beratung mit Personen ihres Vertrauens diesen Schritt für notwendig gehalten haben.

Bei allen Turbulenzen, die dadurch ausgelöst wurden, bei allen bitteren Verletzungen, die zugefügt wurden und bei all dem vergeblichen Aufwand für die Regierungsbildung ist es ein Zeichen von Stärke unserer Demokratie, dass Menschen einen Weg gehen, obwohl dieser ihnen Nachteile bringt. Einen Weg, der die geschmierten Räder politischen Funktionierens anhält. Einen Weg, der deutlich macht, dass auch Politiker nicht zuerst Macht- oder Interessensblöcken angehören, sondern Menschen sind, die um die richtige Entscheidung zu ringen haben.


Dr. Werner Thissen ist Erzbischof von Hamburg und Vorsitzender der Unterkommission Misereor der Bischofskonferenz.