Den Architekten ein Maßstab, den Sowjets ein Debakel, den Filmstars eine Bühne - was für eine Geschichte ...

Berlin. Der Flug nach Hamburg dauerte eine gute Stunde. Am schönsten war er an Bord einer Propellermaschine vom Typ Viscount, wie ihn Britisch Airways in den 60er-Jahren noch flog. Die hatte große Fenster zum Ausblick über Berlin und dann über Mecklenburg, unvergessen vor allem die freundlichen Stewardessen. Sie servierten Schinkenbrot auf einem Holzteller.

Erinnerungen wie diese werden wach angesichts des Abschieds, der unwiderruflich ist. Berlin und sein Flughafen Tempelhof - das war einmal. Heute um 23 Uhr 55 wird die Erlaubnis zum letzten Take-off erteilt: Zeitgleich sollen auf den parallel verlaufenden Pisten eine "Ju 52", Baujahr 1936, und ein Rosinenbomber vom Typ DC-3 abheben. Dann ist Tempelhof nur noch Geschichte.

Aber was für eine. Sie geht weit über die der Luftfahrt hinaus. Sie spiegelt entscheidende Phasen der Berliner Nachkriegsgeschichte wider, sie kündet vor allem vom Durchhalte- und Freiheitswillen der Berliner und vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Siegern und Besiegten. Was für Hamburg der Hafen, war Tempelhof für Berlin: das Tor zur Welt und noch ein bisschen mehr - das Tor zur Freiheit. Diese Melange macht den Abschied von Tempelhof für so viele Berliner so schmerzlich und den Streit um die endgültige Schließung so verbittert.

Die Geschichte währte 85 Jahre. Begonnen hat sie 1923 mit einer Bretterbude. Die ambitionierte Aufschrift "Flughafen Berlin" verdankte sie der vorläufigen Konzession für den Flugverkehr auf dem ehemaligen kaiserlichen Manövergelände Tempelhofer Feld. Als die Nazis kamen, war es mit der Bescheidenheit vorbei. Zwischen 1936 und 1940 entstand nach den Plänen des Architekten Ernst Sagebiel jener in Beton und Muschelkalk geformte Mammutbau, den der britische Stararchitekt Sir Norman Foster noch 2004 als "Mutter aller Flughäfen" pries. Die Berliner waren in Sachen Tempelhof ausnahmsweise einmal bescheidener und tauften das Gebäude seiner halbrunden Form wegen schlicht "Kleiderbügel". Legendär ist vor allem Sagebiels Konstruktion eines überdachten Flugsteigs. In zwölf Meter Höhe erstreckt sich eine 380 Meter lange und 40 Meter breite Stahlkonstruktion ohne auch nur eine Stütze, unter der, geschützt vor Wind und Regen, die Passagiere an Bord gehen sollten. Ein technisches Meisterwerk bis heute. Der Krieg stoppte allerdings den Ausbau des 1,2 Kilometer langen Gebäudes, noch immer eines der größten in Europa.

Erste neue Herren in Tempelhof nach Kriegsende waren die Sowjets. Ab Sommer 1945, nach Aufteilung der Stadt in alliierte Sektoren, machten dann die Amerikaner Tempelhof zu ihrem Militärflughafen. Drei Jahre später wurden sie zum Lebensretter für die gut zwei Millionen Berliner in den Westsektoren. Es ist die erste große Schlacht des Kalten Krieges. Mit einer Blockade wollen die Sowjets erst die Berliner aushungern und dann die Westmächte aus der Stadt vertreiben. Die Amerikaner reagieren mit der Luftbrücke, einer flugtechnischen wie logistischen Meisterleistung, die bis heute einmalig ist: Fast elf Monate lang wird eine Millionenstadt aus der Luft mit allem versorgt, was ihre Menschen zum Leben brauchen; von Mehl und Milch über Kohle und Baumaterial bis zu Klopapier. Im 90-Sekunden-Takt landen die Skymaster-, Skytrain- und DC-3-Maschinen in Tempelhof. Den auf Schutthalden winkenden Kindern werfen die Piloten beim Anflug an kleinen Fallschirmen befestigte Schokolade zu. Der Anfang der Legenden, Erfahrungen und Erlebnisse rund um die Rosinenbomber von Tempelhof; in Dankbarkeit unvergessen.

Der zweite Mythos Tempelhof rankt sich um den zivilen Flugverkehr. Der wird 1950 aufgenommen, am Start sind allein die Fluglinien der drei Westalliierten, geflogen wird in drei Luftkorridoren Richtung Hamburg, Hannover, Frankfurt. Das Flugzeug ist das einzig sichere Verkehrsmittel, um geschützt vor sowjetischen und ostdeutschen Kontrollen nach Westdeutschland zu kommen. Für Millionen Berliner, für alle Flüchtlinge aus dem Osten und für politisch im Westen aktive Menschen wird Tempelhof zum einzig unkontrollierten Tor nach Westen, in die Freiheit. Nach dem Mauerbau nutzen es bis zu fünfeinhalb Millionen Passagiere im Jahr.

Tempelhof ist damals Deutschlands größter Flughafen. Dabei geht es noch ziemlich zwanglos zu: keine Sicherheitskontrollen, die Passagiere gehen allein aufs Vorfeld und müssen nur aufpassen, dass sie in die richtige Maschine steigen. So mancher, der nach Hamburg will, landet in Frankfurt.

Mit der 1951 begründeten Berlinale wird Tempelhof zumindest einmal im Jahr zum Empfangssalon. Dann schreiten Filmstars wie Errol Flyn, Rita Hayworth, Sophia Loren, Marlene Dietrich oder Romy Schneider über den roten Teppich. Berlin liegt ihnen zu Füßen. Sie bringen Glamour in die darbende Stadt und den Berlinern das Gefühl, wieder auf der Weltbühne mitspielen zu dürfen.

Diese Epoche endet 1975, als Tempelhof zu klein und der neue Airport Tegel eröffnet wird. Fortan wird der große Linienverkehr ausschließlich dort abgewickelt. Der Zentralflughafen mitten in der Stadt führt auch nach der Wiedervereinigung und dem Abzug der Amerikaner nur ein Schattendasein, beliebt aber weiterhin bei kleinen regionalen Fluggesellschaften und Privatfliegern. Das ändert sich erst wieder, als der Zeitpunkt seiner endgültigen Schließung näher rückt. Die wird rechtlich relevant ebenso beschlossen wie das Ende von Tegel. Spätester Termin: sobald der neue Großflughafen Berlin-Brandenburg International in Schönefeld am östlichen Stadtrand Berlins den Betrieb aufnimmt. Die Empörung vor allem der meisten Westberliner entzündet sich daran, dass Tempelhof unnötig früh der Garaus gemacht wird. Schönefeld wird frühestens 2012 fertig, zumindest bis dahin, so die Forderung, soll am Luftfahrtdenkmal Tempelhof gestartet und gelandet werden, soll Berliner Geschichte, soll persönliche Erinnerung lebendig bleiben.

Alles vergebens. Selbst 530 231 Stimmen beim Volksentscheid im April können nichts mehr retten. Es fehlen knapp 80 000 für einen Sieg. Doch der hätte wohl auch nicht mehr geholfen, weil der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) Tempelhof partout schließen will und der Volksentscheid für ihn nicht bindend ist.

Das alles hat die Gemüter der Berliner in den vergangenen Monaten mehr als nur erregt. Hilflos müssen sie mit ansehen, wie wieder ein Stück Geschichte ihrer Stadt abgeräumt wird. Es ist die Geschichte vom Mut und Ertragen von Bedrohung, der Berlin um der Freiheit willen getrotzt hat.

Und so nehmen heute noch einmal viele Berliner Abschied von ihrem Flughafen. Die meisten mit einer gewaltigen Wut im Bauch. So wie Gunda Falk aus Spandau. "Sehr, sehr schade" sei die Schließung. "Eine unmögliche Entscheidung. Der Wowi ist danach bei mir abgesackt ..." Klaus Wowereit feiert heute Abend mit 800 geladenen Gästen seinen Sieg. Die Berliner bleiben ausgesperrt, wenn der Mythos Tempelhof stirbt.