Die Christsozialen haben am meisten Stimmen an die FDP und die Freien Wähler abgegeben. Viele Bürger beklagen eine soziale Asymmetrie.

Hamburg. Zeitenwende, Erdbeben, Mythos verloren - die politische Welt ist in Bayern auf den Kopf gestellt. Das Abendblatt sprach darüber mit dem Göttinger Parteienforscher Professor Franz Walter.


Hamburger Abendblatt:

Gibt es noch Volksparteien?

Franz Walter:

Na ja, zur Sekte ist die CSU ja nun nicht gleich geworden, auch nicht zur Kaderpartei einer einzigen Klasse. Sie kommt bei Arbeitern, Beamten, Selbstständigen, Jüngeren und Älteren noch auf mehr als 40 Prozent. Insofern ist sie weiterhin Volkspartei. Aber natürlich: Es bröckelt und bröselt bedenklich. Vor allem übrigens bei den aktiven, erwerbstätigen Gesellschaftsteilen. Bei den 35- bis 60-Jährigen hat die CSU wie auch die CDU und die Sozialdemokraten in den letzten Jahren erhebliche Einbrüche zu verzeichnen. Das ist das eigentlich alarmierende Signal.



Abendblatt:

Wechselt ein Wähler von der CSU zu den Grünen?

Walter:

Wir haben ja gesehen, dass das geht. Die Grünen sind keine studentischen WG-Kommunarden mehr, die mit linksradikalen Parolen militant durch die Straßen ziehen. Ihr Anführer in Bayern, Sepp Daxenberger, ist Landwirt, Feuerwehrmann, regelmäßiger Kirchgänger. Übrigens: Die Grünen haben von der CSU 60 000 Wähler hinzugewonnen, an die Linke aber 30 000 abgegeben. Der Verbürgerlichungsprozess bei den Grünen nimmt dadurch zu.



Abendblatt:

Auf welche Themen muss man setzen? Ziehen Steuererhöhungen oder eher Familienpolitik?

Walter:

Die CSU hat viel an die Freien Wähler und an die FDP abgeben müssen. Insofern spricht einiges für eine dezidiert mittelständische Politik. Doch hat die CSU auch fast 200 000 Stimmen an die rot-rot-grünen Parteien verloren. Das ist mehr ein Indiz, dass nicht ganz wenige Wähler die sozialen Asymmetrien beklagen. Da sind wir wieder beim primären Problem: Den Volksparteien fällt es immer schwerer, ihre frühere Bandbreite zu erhalten, die neuen Widersprüche zu harmonisieren.



Abendblatt:

Wird Bayern noch Bayern sein?

Walter:

Bayern hat sich bereits erheblich geändert, nicht zuletzt durch die regierungspolitischen Erfolge der CSU. Und es ist dann oft so, dass der Schöpfer letztendlich zum Opfer wird. Bayern ist moderner, prosperierender, wissenschaftsgesellschaftlicher geworden, hat die kleineren Leute vom Land größer gemacht, hat Arbeitnehmer aus dem Norden und Westen der Republik angezogen - und dadurch peu à peu Abschied vom Altbayerischen genommen. Und dennoch bleiben zentrale Kerne einer spezifischen Landestradition. Eben daher ist die CSU ja auch nicht in die Marginalität versunken, sondern weiterhin eine zwar geschrumpfte, aber gleichwohl nach wie vor die dominante Partei in Bayern.



Abendblatt:

Braucht Bayern eine Leitfigur wie einen König Ludwig oder tut's auch ein stiller Karrierepolitiker?

Walter:

König Ludwig - dieses Fass wollen wir besser nicht aufmachen. Ministerpräsidenten müssen einen Spagat schaffen: Sie können und müssen präsidial regieren, insofern sind sie kleine Bundespräsidenten. Sie können und müssen aber ebenfalls kleine Kanzler in ihrem Bundesland sein: also Dinge energisch vorantreiben, politische Härten zeigen. Auf die Mischung kommt es an.



Abendblatt:

Welche Auswirkungen sehen Sie für die Union? Ist die CSU jetzt der 16. Landesverband der CDU?

Walter:

Die CSU hat die CDU oft geärgert, in den Zeiten von Strauß und Stoiber, als sie sich mit großem Selbstbewusstsein und einiger Querköpfigkeit in die Bundespolitik eingemischt hat. Dass das zuletzt nicht mehr der Fall war, hat Frau Merkel das Geschäft erleichtert. Aber es hat die CSU auch kleiner gemacht. Indes: Mit einer kleinen CSU kommt die Union insgesamt bei Bundestagswahlen nicht mehr über 40 Prozent. Insofern müsste auch die CDU Interesse daran haben, dass die CSU nicht ein bescheidener Appendix ihrer selbst wird.



Franz Walters aktuelles Buch "Baustelle Deutschland" ist gerade bei Suhrkamp erschienen.