Hamburg praktiziert schon lange, was die Türkei jetzt einfordert: deutsch-türkischen Unterricht. Miteinander lernen, voneinander lernen - An der Heinrich-Wolgast-Grundschule in St. Georg wachsen die Kinder seit Jahren zweisprachig auf. Eine Erfolgsgeschichte.

Hamburg. Akin grinst ein wenig verlegen. Der Neunjährige schiebt seinen Oberkörper von einer Seite auf die andere und erzählt an diesem Morgen im Stuhlkreis der 4b in der Heinrich-Wolgast-Grundschule in Hamburg-St. Georg seine Geschichte zu Ende. Ganz flüssig in klaren Worten. Nur einmal muss ihn sein Freund, mit dem er sich diese kurze Räuberpistole ausgedacht hat, unterbrechen. Dann nämlich, als Akin rausrutscht: "Da kamen die Bullen." "Polizei heißt das", raunt es von der Seite.

Dann ist Liv dran. Ihre Erzählung handelt von einer orange-farbenen Nudel, die lieber ein Bücherwurm sein will. Sie mag das heiße Nudelwasser einfach nicht. Irgendwie eine typische Jungen- und eine typische Mädchengeschichte. Und doch haben sie etwas Besonderes.

Denn das, was der Türke Akin auf Deutsch erzählt, erzählt die Deutsche Liv auf Türkisch. Die beiden besuchen eine der zwei Hamburger bilingualen deutsch-türkischen Grundschulen und lernen nicht nur miteinander, sondern auch viel voneinander. An der Heinrich-Wolgast-Schule wird schon seit fast fünf Jahren das praktiziert, was der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in Deutschland neulich so nachdrücklich eingefordert hat: deutsch-türkischen Unterricht mit Unterstützung von Türkischlehrern aus der Türkei - und aus Deutschland.

Auf die Heinrich-Wolgast-Grundschule gehen 180 Kinder aus 26 Nationen. In jedem Jahrgang gibt es eine deutsch-türkische Klasse mit zweisprachigem Unterricht, betreut von einem deutsch-türkischen Lehrerteam. Vier türkische Lehrer wurden aus der Türkei geschickt, zwei haben in Deutschland studiert. Die Kinder kommen je zur Hälfte aus deutschen und aus türkischen, einige wenige aus zweisprachigen Elternhäusern. Sie lernen nicht nur lesen und schreiben in beiden Sprachen, sondern auch der Sachkundeunterricht ist teilweise zweisprachig.

"Eigentlich ist es ganz schön schwer", sagt Matti aus der 4b über die türkische Sprache. Dennoch kann er schon ziemlich genau erklären, wie sich ein Verb in den unterschiedlichen Zeiten verändert. Das ist das, was Lehrer Bülent Kurnaz gerade mit den Kindern übt. Ben eve gidiyorum, steht an der Tafel. Ich gehe nach Hause. Ich ging, ich werde gehen, ich bin gegangen - alles noch mal auf Türkisch. Viele Finger strecken sich hoch. Ruhig und konzentriert arbeiten die 21 Kinder mit. Im Hintergrund sitzt Klassenlehrerin Sabine Schöneich, die kurz danach mit Sachkunde - auf Deutsch - weitermacht.

Noch kann Matti außerhalb des Unterrichts in Türkisch noch nicht so richtig mithalten. Dafür reden seine türkischen Freunde zu schnell. Das spiegelt auch eine der Erfahrungen wider, die die Lehrer gemacht haben. "Die deutschen Kinder sprechen wenig Türkisch", sagt Schulleiterin Petra Demmin. Das kann viele Gründe haben. Andere bilinguale Schule mit anderen Sprachkombinationen kennen das auch und stehen deswegen schon im Austausch miteinander.

Als Liv im Herbst mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder, der in die zweite Klasse der Heinrich-Wolgast-Schule geht, in der Türkei im Urlaub war, wunderte sich ihre Mutter, dass ihre Tochter ziemlich wenig gesprochen hat. Die Zehnjährige selbst aber meinte, sie habe sehr viel gelernt. Wenn Liv im nächsten Jahr auf die weiterführende Schule geht, werde sie die Sprache wohl "leider verlieren", meint Inga Gaertner. Dennoch sei das Lernen nicht umsonst gewesen.

Die Eltern hatten sich für die nahe gelegene Heinrich-Wolgast-Schule entschieden, weil es ein "spannendes Projekt" ist. "Es schadet nie, eine andere Sprache zu lernen", sagt Inga Gaertner. Das ist auf jeden Fall ein großes Plus, wie auch die Lehrer feststellen. Es erleichtert den Umgang mit jeder weiteren Sprache. "Sie lernen dann alle schneller Englisch", sagt Petra Demmin.

Bei den türkischen Kindern, die oft mehr zwischen als in zwei Sprachen groß werden, zeigen sich Erfolge beim besseren Verständnis der Sachaufgaben in Mathe. Um sie zu lösen, müssen sie den Text wirklich verstanden haben, und das fällt ihnen auf bilingualen Schulen leichter.

Für die Schulleiterin ist das Konzept bisher eine Erfolgsgeschichte und ein großer Beitrag zur Integration. "So etwas wie ,Scheiß-Türke' hören wir hier nicht", sagt sie. Auseinandersetzungen auf dem Schulhof, deretwegen türkische Jungs oft gefürchtet sind, gibt es in St. Georg nicht mehr als an anderen Grundschulen auch.

Ohnehin sehen die Probleme im Zusammenleben von Deutschen und türkischen Migranten, mit denen gern große Politik gemacht wird, aus dem Blickwinkel von Schulleiterin Petra Demmin oft ganz anders aus. Die Nationalität der Kinder gerät in den Hintergrund. Schulleistungen hätten etwas mit Bildungsstand des Elternhauses zu tun, sagt die Pädagogin. Gewalt hänge mit dem Selbstwertgefühl zusammen. Sie findet dafür immer wieder viele Beispiele an ihrer Schule.

Das einzige Kind aus der 4b mit einer Empfehlung für das Gymnasium etwa ist Mina. Sie kam erst in der zweiten Klasse aus der Türkei nach Deutschland und sprach damals noch kein Wort Deutsch. Doch sie beherrschte das Türkische sehr gut, und ihre Eltern haben sie so sehr unterstützt, dass sie den Sprung nun schafft.

Und dann ist da der türkische Junge, der wegen seiner Verhaltensauffälligkeit schon aus der Vorschule auf eine Förderschule verwiesen werden sollte. Er fasst in St. Georg wieder Fuß. Das hat wohl auch damit zu tun, dass sein Selbstwertgefühl steigt, wenn er sieht, dass Türkisch eine anerkannte Sprache an der Heinrich-Wolgast-Schule ist, und am Beispiel des perfekt Deutsch sprechenden Türkischlehrers erkennt, dass es für ihn eine große Chance ist, die Sprache des Gastlandes zu beherrschen.

Je besser das geht, desto besser können sich Kinder mit Worten statt mit Fäusten wehren. Das alles ist ein Kreislauf. "Wenn Kinder kein Selbstwertgefühl haben, dann sind sie sehr verletzlich", sagt Petra Demmin. Und damit ist sie eigentlich auch wieder beim türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Sie fand dessen Äußerungen zum Türkischunterricht in Deutschland ein ganzes Stück übertrieben. Darin drücke sich auch ein geringes Selbstwertgefühl aus. "Aber", sagt sie, "wir machen es den türkischen Migranten eben oft auch nicht leicht."

An ihrer Schule soll das besser gelingen. Die Lehrer helfen kräftig mit, um Brücken zu bauen. Wenn etwa ein türkisches Mädchen bei ihrer deutschen Freundin zum Geburtstag auf einem der großen Indoor-Spielplätze eingeladen ist, erklärt die Lehrerin der Mutter schon mal, dass das in Ordnung geht. Die türkischen Eltern haben Vertrauen, kommen zu den Elternabenden und "freuen sich über jeden kleinen Satz, den ich mir auf Türkisch abquäle", sagt die Schulleiterin lachend. Für sie war es selbstverständlich, sich auch in die Sprache einzufinden.

Was bei ihren deutschen Schülern letztlich vom Türkisch-Unterricht fürs spätere Leben hängen bleibe, ist aus ihrer Sicht gar nicht das Entscheidende. Die wichtigste Erfahrung, die diese von der Schule mitnehmen könnten, sei der hier erlernte Umgang miteinander. "Wer vier Jahre lang in einer deutsch-türkischen Klasse gewesen ist", sagt sie, "der wird später keine ausländerfeindlichen Parolen rufen."