Experte kritisiert scharf CDU und SPD: “Urvertrauen in Gesetzgebung wird erschüttert.“

Berlin. Regulierungswut und Bürokratismus in Deutschland nehmen immer mehr zu statt ab. Allein seit Antritt der Großen Koalition im Herbst 2005 wurden im Bundesgesetzblatt 198 Gesetze und 500 Verordnungen veröffentlicht, ergab eine Studie im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). "Das wird sich bis Ende der Legislaturperiode sogar noch auf das Doppelte erhöhen", prognostiziert der Leiter der Studie, der Hamburger Staatsrechtler Ulrich Karpen, gegenüber dem Abendblatt.

Entgegen allen Beteuerungen, Bürokratie abzubauen, neigten Union und SPD dazu, immer mehr Dinge staatlich zu regeln, so der Professor. "Beide große Parteien reden vom freien Bürger - gleichzeitig schaffen sie beständig neue Normen, die die Freiheit immer weiter einschränken und die Bürger fesseln."

Die meisten Neuregelungen betreffen die Bereiche Wirtschaft, Steuern, Finanzen sowie Landwirtschaft und Lebensmittel. Zu den Bundes-Zahlen müssen noch die Gesetze und Verordnungen der Länder - wie jüngst zum Nichtraucherschutz - und die Gemeindesatzungen hinzugerechnet werden. "Das Urvertrauen in die Gesetzgebung wird erschüttert, weil oft selbst Experten nicht mehr wissen, was gilt." Letzteres gilt besonders für Finanzbeamte, die Mühe haben, bei Steuererklärungen auf dem aktuellen Stand zu sein.

Auch Qualität und Auswirkungen vieler Rechtsnormen aus der laufenden Legislaturperiode geben Anlass zur Sorge. Laut der Studie verursachen 76 Prozent der neuen Gesetze und Verordnungen noch mehr Bürokratiekosten für Bürger, Unternehmen und Verwaltung; 58 Prozent werden innerhalb von zwei Jahre wieder geändert; 50 Prozent sind unverständlich. Als Extrembeispiel gilt die Landwirtschaft, wo Vorschriften häufig von den Bauernverbänden "übersetzt" werden müssen, weil sie auch für studierte Landwirte nicht zu verstehen sind.

Die Bundesregierung hingegen verweist auf Erfolge beim Bürokratieabbau. Seit 2006 überprüft der "Normenkontrollrat" die Gesetzentwürfe, bevor sie im Kabinett beschlossen werden, auf zu erwartende Bürokratiekosten für die Unternehmen. Im ersten Jahresbericht vermeldete das Gremium, man habe die Wirtschaft bereits per Saldo um mehr als 790 Millionen Euro entlastet. Nach Schätzungen der "Geschäftsstelle Bürokratieabbau" im Kanzleramt betragen die Verwaltungskosten, die Firmen durch bundesgesetzliche Bestimmungen entstehen, pro Jahr aber mindestens 27 Milliarden Euro.