Ansichtssache

Große Organisationen kommen ohne Hierarchien und Gehorsam nicht aus. Bei aller Diskussion über kooperative Führung und die Einbindung von Mitarbeitern in den Entscheidungsprozess - irgendwann kommt die Situation, in der wenige für viele entscheiden. Militärische Organisationen sind ohne Gehorsam schlicht und einfach undenkbar. Und deshalb ist der Drill ein so wesentliches Element der militärischen Ausbildung.

Ziel ist es, dass der Mensch, der einen Befehl bekommt, darauf sofort reagiert. Und dies - bitte schön - so, wie es der Befehlsgeber will. Marschieren, linksum, rechtsum, Waffen nach Zeit zerlegen und zusammensetzen, das Anlegen von Rettungswesten sowie alle anderen Drillübungen dienen nur einem Zweck: der Erziehung zum Gehorsam. So ist es bei allen Armeen auf der Welt.

Diese Erziehung ist üblicherweise erfolgreich. Sonst würden US-Soldaten kaum in irakische Häuser eindringen, aus denen auf sie geschossen wird. Bei der Bundeswehr ist die gesetzliche Grundlage für diese Ordnung das Soldatengesetz. Wer sich mit Wort und Tat gegen einen Befehl auflehnt oder ihn auch nach Wiederholung nicht befolgt, macht sich strafbar, steht dort. Paragraf 20 des Wehrstrafgesetzes droht bei "Gehorsamsverweigerung" knapp und klar mit bis zu drei Jahren Gefängnis.

Wozu also die ganze Aufregung über eine Interviewäußerung des Bundesverteidigungsministers? Schließlich heften sich jede Woche Phantom-Jagdflugzeuge der Luftwaffe mit scharfen Waffen an die Fersen von Airlinern, die den Controllern am Boden merkwürdig vorkommen. Zum Beispiel, weil sie nicht rechtzeitig die Funkfrequenz wechseln. Ja - das ist Routine am deutschen Himmel. Doch der Abschuss wäre es nicht, und den von Jagdpiloten zu verlangen, ohne die rechtliche Grundlage geschaffen zu haben, ist der eigentliche Skandal. Paragraf 11 des Soldatengesetzes macht die Verweigerung des Gehorsams zur Pflicht, wenn durch das Befolgen des Befehls eine Straftat begangen würde. Dieses ausdrückliche Recht zur Meuterei fußt auf den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des preußischen Militarismus mit seinem Anspruch auf Kadavergehorsam: "Befehl ist Befehl!"

Das gilt in der Bundeswehr eben nicht. Natürlich geht es hier nicht darum, der Gehorsamsverweigerung schlechthin das Wort zu reden. Doch im aktuellen Streit ist ja nicht davon die Rede, bei "vorwärts - marsch" einfach stehen zu bleiben. Das Bundesverfassungsgericht, immerhin höchste Rechtsinstanz in diesem Land, hat ein Gesetz kassiert, das den Abschuss von Passagierflugzeugen, die zu Terrorzwecken entführt worden sind, erlaubt hätte. Für diesen Abschuss-Befehl gibt es derzeit keine Rechtsgrundlage.

Darauf hinzuweisen ist die Pflicht des Verteidigungsministers. Mehr noch, er muss dafür sorgen, dass es endlich damit vorangeht. Aber wie Jung und Luftwaffeninspekteur Stieglitz von seinen Soldaten zu verlangen, dass sie einen Befehl ausführen, den sie verweigern dürfen - ja nach aktueller Rechtslage sogar verweigern müssen -, kann ja wohl nicht sein. Die Folgen sind verheerend: Da ruft der Vorsitzende des Bundeswehrverbands - Luftwaffen-Oberst Bernhardt Gertz - sowie der Vorsitzende der Kampfpiloten-Vereinigung die Kameraden prompt zur Befehlsverweigerung auf. Die Opposition plustert sich auf, und der Koalitionspartner SPD tut, als gehe ihn das alles nichts an.

Mittendrin Piloten, die sicherlich professionell genug sind, in diesem sehr unwahrscheinlichen Ernstfall auch angemessen zu reagieren, die aber rechtliche Sicherheit brauchen und darauf zählen, dass ihr Minister im Zweifel hinter ihnen steht und die gleiche Professionalität an den Tag legt, wie sie es tun.