Hamburg. Als einen "Markstein in der Geschichte der Bundesrepublik" sah Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) in seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD, als ein Regierungsbündnis auf Zeit, das "unbewältigte Aufgaben" zu lösen habe, nämlich Haushaltsausgleich, Wirtschafts- und Währungsstabilisierung, Wahlrechts- und Finanzreform. Dazu war es gekommen, nachdem im Schatten der ersten Wirtschaftskrise des Landes die vier FDP-Minister Mende, Scheel, Dahlgrün und Bucher das zweite Kabinett Erhard, das aus einer CDU/CSU- und FDP-Koalition entstanden war, verlassen hatten und Kanzler Ludwig Erhard (CDU) am 30. November 1966 zurückgetreten war.

Der Bundestag wählte am 1. Dezember 1966 Kiesinger zum Kanzler, dessen Kabinett aus zehn CDU/CSU- und neun SPD-Ministern gebildet wurde, darunter Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister. Die Erwartungen an die erste Große Koalition der Bundesrepublik waren groß. Was ist daraus geworden?

Prof. Ernst Benda (81), einer von nur fünf noch lebenden Ressortchefs der Regierung Kiesinger, später Präsident des Bundesverfassungsgerichts, urteilt heute gegenüber dem Abendblatt so: "Die erste Große Koalition war gut gestartet. Schwierigkeiten traten erst im letzten Jahr auf, als sich die SPD wegen der Wahlen von der CDU abzusetzen begann." Ein Blick in die Erinnerung des damaligen SPD-Ministers Horst Ehmke bestätigt das. In seinem Buch "Mittendrin" schreibt er: "Damit die SPD nicht in der Großen Koalition erdrückt werde, hatte ich ihr frühzeitig eine ,Strategie des begrenzten Konflikts' empfohlen, sehr zum Ärger der Union. Für den Wahlkampf ging es darum, die Erfolge der SPD als Regierungspartei zu unterstreichen und darzulegen, was wir ohne Behinderung durch die Union besser machen würden."

Ernst Benda sieht einen wichtigen Unterschied zwischen damals und heute: "Heute ist die Lage umgekehrt: Die Große Koalition wurde erst skeptisch gesehen und hatte erhebliche Anfangsschwierigkeiten. Der Fernsehauftritt Gerhard Schröders war ein schlechtes Vorzeichen. In letzter Zeit haben sich die Koalitionäre aber enger zusammengefunden."

Benda sieht die Große Koalition von 1966 als eine "Wendemarke": "Wir merkten erstmals, dass die guten Zeiten zu Ende gingen, das Wachstum stockte, die Arbeitslosenzahlen stiegen und kein Geld mehr übrig blieb. Und das große Ziel beider Parteien, die Wahlrechtsänderung hin zum Mehrheitswahlrecht, was für die Zukunft sehr nützlich gewesen wäre, wurde nicht erreicht, weil ein SPD-Parteitag sie ablehnte."

Über die damals wie heute diskutierte "Richtlinienkompetenz" des Regierungschefs sagt Benda: "Führungsdiskussionen sind übliche politische Spiele, vor allem in einer Großen Koalition. Kiesinger führte sehr konsensbewusst. Auch Frau Merkel wird zu Kompromissen neigen. Denn die Kunst besteht darin, zu führen, ohne dass die Geführten das Gefühl haben, immer nur folgen zu müssen."

Der SPD-Politiker Georg Leber, der sich 1966 "top secret" mit dem CDU-Mann Hans Katzer an einer Raststätte getroffen hatte, um das brisante Thema "Große Koalition" zu sondieren, sieht das Bündnis von 1966 positiv: "Anders als heute dargestellt, bedeutete es keinesfalls Stillstand, sondern löste kraftvoll die aktuellen Probleme des Landes."

Die Beobachter von damals waren in ihrem Urteil gespalten. Für Oppositionspolitiker Thomas Dehler (FDP) war die Allianz "eine miese Ehe", für "Die Welt" war sie "zum Erfolg verdammt". Das "Handelsblatt" leitartikelte: "Mehr Feuerwehr als zielstrebiges Flurbereinigungskommando . . . es wurde eine allgemein tragbare Generallinie formuliert, doch ihre einzelnen Elemente blieben in den koalitionsinternen Auseinandersetzungen stecken."

Und der "Spiegel" präsentierte per Karikatur eine Psychiatercouch, auf der ein Patient mit Willy Brandts Haarschopf klagte: "Und was unser Mitregieren so erschwert, Herr Doktor - diese schleichende Angst: Wo ist unser Profil? Haben wir es am Altar des Vaterlandes oder der Union geopfert?" Wiederauflage 2009?