Dietrich Bonhoeffer: Märtyrer, NS-Widerständler, Heiliger? Was war der Theologe, der morgen 100 würde, wirklich? Sein Mut und seine Konsequenz waren beispielhaft. Und sein unerschütterlicher Glaube nahm ihm die Angst, als die Nazis ihn an den Galgen führten.

Hamburg. Es ist der 5. April 1943, ein schöner, kalter Frühlingstag. In Berlin und München werden Männer der Abwehr verhaftet, Hans von Dohnanyi voran, Jurist, enger Vertrauter des Abwehrchefs Wilhelm Canaris. Er soll Devisen verschoben, Freunde durch Scheineinstellungen bei der Abwehr dem Wehrdienst entzogen haben, darunter seinen Schwager Dietrich Bonhoeffer. Auch der wird verhaftet. Theologe, Publizist, Pfarrer der Bekennenden Kirche. V-Mann der Abwehr. 37 Jahre alt. Ein Querkopf, ein Opponent. Auch ein Widerstandskämpfer?

Die Nachkriegszeit wird ihn dazu stilisieren und zum Märtyrer, fast zum Heiligen dazu. Bonhoeffer, nicht ohne Sinn für Ironie, hätte dazu gelächelt. "Ich will ein Heiliger werden." So ein frühes, kühnes Wort. Am Ende will er nur einer wie viele sein.

Er war es nie. Von Anfang an nicht. Am 4. Februar 1906 hineingeboren ins ganz feine Großbürgertum, der Vater Professor an der Berliner Charite, die Mutter von Adel. "Wir sind nicht reich, nur kinderreich", wird sie beteuern, in der Tat: acht Geschwister, vier Mädchen, vier Jungen, Dietrich der jüngste, ein kleiner Prinz, hübsch anzuschauen, das Nesthäkchen. Dagegen trotzt er an, auch die Entscheidung für die Theologie mag zunächst eine solche Trotzpose sein. Denn der Vater, Agnostiker, will von Kirche nicht viel wissen.

Die sei so langweilig, höhnen die Brüder. Bonhoeffer: Dann würde er sie eben wieder spannend machen. Er sucht den eigenen Weg, den eigenen Glauben, im Sinn des Religionsreformers Karl Barth, der die Erneuerung des Glaubens aus dem Bibelwort heraus fordert, denn nur dort offenbare sich Gott dem Menschen. Das leuchtet Bonhoeffer ein. Doch ein "Barthianer" wird er nie. Er reist.

In Rom beeindruckt ihn die Sinnenhaftigkeit des Katholizismus, in Barcelona, wo er als Vikar einer deutschen Gemeinde arbeitet, die Begegnung mit Menschen ganz anderer Art, als sie im Dahlemer Elternhaus verkehren, mit entlaufenen Legionären, Nachtklubtänzerinnen, Zirkusleuten.

Das vertieft sich in New York, wo er 1930 - schon promoviert, habilitiert - ein Stipendium am Theological Seminary wahrnimmt. Dort fesselt ihn vor allem die Gläubigkeit der Farbigen von Harlem: So ursprünglich, findet er, muß Glaube sein. Und zugleich tritt das Prinzchen hinaus aus der Glaskuppel seiner Herkunft, sein Blick weitet sich für soziale Zusammenhänge.

Zurück in Deutschland wird er sich nicht scheuen, einer Horde wilder Weddinger Rüpel Konfirmandenunterricht zu geben: Man dürfe dem Ernst Thälmann nicht das Feld überlassen. Also nicht den Kommunisten. Denn der Feind, so nicht nur Bonhoeffer, steht links.

Er steht rechts. Adolf Hitler übernimmt am 30. Januar 1933 die Macht. Der "Kirchenkampf" beginnt, ein äußerst komplexer Vorgang mit keineswegs eindeutiger Grenzziehung. Auch Bonhoeffers Haltung ist so völlig klar nicht. Zu sperrig, zuwenig kompromißbereit, um nicht auch in den eigenen Reihen immer wieder anzuecken. Der einzelne, Besondere, ein Außenseiter. Der ist er auch hier.

Konflikte zeichnen sich ab, Bonhoeffer weicht zunächst nach England aus, übernimmt in London eine Gemeindevertretung. Von dort beobachtet er, was sich in Deutschland tut. So im Juni 1934 beim sogenannten "Röhm-Putsch" die Liquidierung einiger Dutzend Hitler-Gegner, ohne Urteil, ohne Prozeß. Aber kein Protest, auch von der inzwischen entstandenen "Bekennenden Kirche" nicht. Auch deren Pfarrer stehen auf den Kanzeln und danken Gott für diesen wunderbaren Führer, der das Vaterland aus höchster Not errettet hat.

Bonhoeffer dankt nicht. Er hält fest: Wer so was tut, macht noch ganz anderes.

Er kehrt nach Deutschland zurück, übernimmt die Leitung eines illegalen Predigerseminars der Bekennenden Kirche. In Europa wächst die Kriegsgefahr, Bonhoeffer ist entschlossen, den Wehrdienst zu verweigern. Das kann KZ bedeuten. Bonhoeffer, nun schon im Sommer 1939, scheint dem zu entkommen, folgt einer neuerlichen Einladung nach New York, könnte dort bleiben - und kehrt zurück. Warum?

Keine der vielen Antworten, auch seine eigenen, überzeugt so richtig. Hier folgt wohl einer mehr intuitiv der Spur, die ihm sein Schicksal vorgezeichnet hat, ein "Existentialist", wie Bonhoeffer schon gedeutet wurde. Er ist zum Widerstand entschlossen, listig, hinter Masken, läßt sich vom Schwager Dohnanyi für die Abwehr anwerben. Er soll die Ökumene, den Zusammenschluß der evangelischen Kirchen, nach ihren Ansichten zu Deutschland aushorchen. Offiziell. Sein wahrer Auftrag, dem er bei Reisen nach Schweden und in die Schweiz mit großem Eifer, wenn auch vergeblich nachgeht: die Kirchenführer von der Existenz einer starken Opposition zu überzeugen und sie zu bewegen, Einfluß auf ihre Regierungen zu nehmen, vom Kriegsziel einer bedingungslosen deutschen Kapitulation abzurücken.

Insgesamt eine Verschwörung der Dahlemer Herrensöhnchen, die sich da anbahnt, so wirken zuweilen die konspirativen Tätigkeiten dieser Männer, die alle "aus dem gleichen Stall" kamen, vom Leben verwöhnt, leise hochmütig - und sicher schwingt in der Ablehnung Hitlers viel snobistische Verachtung für den Proleten aus Braunau mit. Aber man weiß in diesen Kreisen eben auch, was sich gehört. Daß man zum Beispiel nicht Menschen mit einem gelben Stern an der Brust in Güterwagen verfrachtet, wie es Bonhoeffer beim Abtransport der Berliner Juden im Herbst 1941 erlebt. Im selben Jahr wird er sagen: "Ich bete für die Niederlage meines Landes, da ich glaube, daß das die einzige Möglichkeit ist, um für das ganze Leid zu bezahlen, das mein Land in der Welt verursacht hat." Und Bonhoeffer betet nicht nur.

Dennoch: Aktiver Widerstand im Sinn eines Stauffenberg ist das nicht. Bonhoeffer ist Mitwisser, nicht Mitverschwörer. Das bleibt gefährlich genug. Schon ist die Opposition innerhalb der Abwehr im Fadenkreuz der Gestapo. Die Festnahme eines kleinen Devisenschiebers liefert den Anlaß. Dohnanyi wird verhaftet, auch Bonhoeffer. Der zeigt sich bei den Verhören schlau und gerissen, rechnet mit baldigem Prozeß und sicherem Freispruch.

Aber die Zeit im Tegeler Wehrmachtsgefängnis zieht sich hin, für Bonhoeffer zwei Jahre der Selbstbesinnung, Selbsterkundung. Wer bin ich?" steht über einem der Gedichte, die nun entstehen, am Ende auch das berühmteste mit der Zeile "Von guten Mächten wunderbar geborgen", die alle süßliche Verschwommenheit verliert, wenn man sich vor Augen hält, wann und wo das geschrieben wurde, fast schon im Schatten des Galgens.

Jetzt ist es Oktober 1944, Unfaßliches geschieht: Die Gestapo knackt einen Tresor, wo sich säuberlich geordnet alles an Unterlagen über den deutschen Widerstand findet, mit reichlich Namen dabei, die Gestapo braucht nur abzuhaken. Warum ist das alles nicht längst vernichtet worden? Aber wir sind eben in Deutschland. Dort hat selbst Hochverrat seine bürokratische Ordnung.

Bonhoeffer wird ins Gestapo-Hauptquartier überstellt, dann ins KZ Buchenwald, schließlich nach Flossenbürg, dem schlimmsten aller deutschen Konzentrationslager. Die Amerikaner rücken näher, man hört schon den Donner ihrer Geschütze. In Berlin befiehlt Hitler die Liquidierung des in Flossenbürg inhaftierten Ex-Abwehrchefs Canaris und seiner Leute. Ein Sondergericht bricht auf. Im KZ Sachsenhausen wird der schon schwerkranke Hans von Dohnanyi umgebracht.

Dann weiter nach Flossenbürg. Schnellverfahren, Scheinprozeß. Nein, werden später die ihrerseits vor Gericht gestellten Verantwortlichen beteuern, da sei alles ganz korrekt zugegangen. Ach, wirklich? Ohne Verteidiger? Ohne Protokollführer? Nein, das war Mord, vorsätzlich und aus niedrigem Beweggrund.

Dietrich Bonhoeffer stirbt in den Morgenstunden des 9. April 1945 am Galgen. Ein Märtyrer? Vielleicht. Ein Heiliger? Dann einer mit sehr irdischen Zügen, nicht frei von Arroganz und Eitelkeit. Ein Mensch. Das auf alle Fälle. Von hohem Mut und zielbewußter Konsequenz. Hierin ein mögliches Vorbild. Und vielleicht gerade darum wird er von manchen auf einen so hohen Sockel gestellt, wo keiner mehr an ihn heranreicht. Denn wer, bitte, könnte sich dann schon anmaßen, einem solchen Übergutmenschen nachzueifern, selbst so mutig und so konsequent zu sein? Das beruhigt das eigene Gewissen. Und versöhnt mit eigener Unzulänglichkeit.