Koalitionsverhandlungen: Die Sondierer müssen ihre Parteien überzeugen. Teile der SPD-Fraktion sprechen von einer “Katastrophe“, CDU-Leute monieren, daß ihre Linie “nicht durchgebracht“ werde.

Berlin. "Sie sind Bundeskanzlerin", ruft eine britische Journalistin der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel bei der Pressekonferenz gestern nachmittag temperamentvoll zu: "Wie geht es Sie?" Kaum ist die Frage ausgesprochen, prasselt aus den oberen Etagen des Konrad-Adenauer-Hauses Beifall der CDU-Mitarbeiter auf die Chefin nieder. Die lacht im überfüllten Foyer des Hauses kurz ins Blitzlichtgewitter und ringt ein wenig verdutzt um eine Antwort: "Erstens: Es geht mir gut. Zweitens liegt sehr viel Arbeit vor uns."

Ganz sachlich und nüchtern setzt sie noch hinzu: "Ich befinde mich im Zustand gespannter Aufmerksamkeit." "Sind Sie eine glückliche Frau", hakt eine dänische Journalistin sofort nach. Da wird Merkel einen Moment fast verlegen, gesteht dann kühl: "Ich bin guter Stimmung" und seufzt, es wäre ja auch schrecklich, "wenn ich griesgrämig wäre".

Selbst am Tag ihres Sieges über Gerhard Schröder gestattet sich die nüchterne Physikerin keinen Gefühlsausbruch. Nach dreiwöchigem heftigen Sträuben, hartem Poker und mehreren nächtlichen Spitzengesprächen hat Schröder nun kapituliert und für Merkel den Weg ins Kanzleramt frei gemacht. Sie hat den Nervenkrieg gewonnen. "Die CDU/CSU stellt den Bundeskanzler." In diesen dürren Worten steht Merkels Triumph in dem dreiseitigen Papier mit der sperrigen Überschrift: "Grundlagen für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und SPD", auf das sich am späten Sonntagabend Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering mit Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber verständigt hatten. Über den Verlauf der Gespräche schwiegen die Teilnehmer erneut eisern.

Gestern früh mußten sie ihre Parteigremien über die Verabredungen informieren und sie für sie gewinnen. Das gelingt ihnen offiziell eindeutig. Es gibt klare Mehrheiten für die Aufnahme echter Koalitionsverhandlungen. Doch überschäumende Begeisterung klingt anders. Skepsis ist auf allen Seiten mit Händen zu greifen, viel Mißmut ebenfalls.

"Das ist eine Katastrophe", tobt gar Johannes Kahrs gegenüber dem Abendblatt. "Blankes Entsetzen" herrsche in der SPD-Fraktion. Der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete hat wochenlang als Sprecher des Seeheimer Kreises eher konservativer SPD-Parlamentarier massiv für Schröder als Kanzler getrommelt. Im Bunde mit der parlamentarischen Linken hatte er noch am Freitag verlangt, die SPD dürfe kein Ergebnis akzeptieren ohne Schröder als Kanzler. Alles vergebens. Nun ist bei Kahrs die Enttäuschung groß. Nun fordert er Schröder namens der Seeheimer auf, wenigstens Vizekanzler und Außenminister zu werden. "Und wenn Schröder nicht in die Regierung wolle, dann solle er eben SPD-Chef werden. "Wir brauchen einen Reformmotor in dieser Koalition und können auf ihn nicht verzichten", sagte Kahrs.

Die Vorstellung, Schröder könne Außenminister werden, versetzt manche in der Union aber in Angst und Schrecken. Sie stellen sich vor, eine Kanzlerin Merkel und alle anderen im Kabinett schlügen sich mit den Niederungen der Innenpolitik herum und mit einem Regierungsprogramm, das angesichts der Probleme "nur ein unpopuläres sein kann". Und Schröder besuche heute Putin, morgen Chirac, spreche dann bei den Vereinten Nationen, gebe "braun gebrannt und entspannt" Interviews. "Das ist ein Bild, das ich nicht haben möchte" sagt ein Führungsmann der Union hinter vorgehaltener Hand. Daß Schröder noch in die Regierung Merkel eintritt, damit rechnet allerdings keiner mehr.

Die Aufteilung der Ressorts sorgt auf beiden Seiten für Verärgerung. "Die SPD ist nur noch zuständig für die Probleme der Republik, die Union für die Zukunft", wettert etwa Kahrs. Die SPD solle sich in der künftigen Bundesregierung um alles kümmern, was Ärger mache, um Rente, Finanzen, Gesundheitsreform. Zukunftsressorts wie Wirtschaft, Forschung, Bildung, Entwicklung, Familie oder Zuständigkeiten für Europa - eigentlich Schwerpunktthemen der Sozialdemokratie - seien alle an die CDU gegangen, wetterte Kahrs. Heute wollen die Seeheimer in einer Sondersitzung beraten, ob sie die Einigung gutheißen.

Heftiger Widerstand kommt allerdings in der SPD nicht nur von den Seeheimern. Auch Noch-Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement verbarg seine Verärgerung keine Sekunde. Sein Doppelressort "Wirtschaft und Arbeit", erst vor drei Jahren so für Clement geschneidert, wird jetzt wieder getrennt. Ohne Absprache mit Clement hatten Schröder und Müntefering dies durchgesetzt. Prompt wetterte Clement, die SPD habe nun kein "Gestaltungsressort" mehr, habe nur noch "Problemlöser-Ministerien. Die SPD-Unterhändler hätten "viel zu früh die Nerven verloren". Vermutlich sei Clement vor allem sauer, weil nun im Kabinett der großen Koalition kein Platz mehr für ihn sei. Er selber ließ aber auch wissen, er wolle jetzt "seine Freiheit genießen".

Auch die Personalspekulationen sorgten in Teilen der SPD für Unruhe. Als Umweltminister wird etwa der Düsseldorfer Michael Müller genannt, einer der führenden Köpfe des linken SPD-Flügels. "Können Sie sich Michael Müller als Umweltminister vorstellen", stöhnt ein ranghoher Genosse aus dem eher konservativen Spektrum der SPD. Gegen den sei der grüne Trittin doch ein "Weichei". "Das ist nicht der große Aufbruch."

Ob dieses Echos war es kein Wunder, daß Müntefering bei der Pressekonferenz eher angespannt wirkte.

Doch auch bei der CDU hielt sich die Begeisterung in Grenzen. "Das ist kein Wunschkonzert", meinte Mittelständler Peter Rauen. Andere murrten, die Union habe schon in einigen Punkten nachgegeben, etwa im Streit um betriebliche Bündnisse für Arbeit und im Ringen um die Besteuerung von Zuschlägen für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit. Hier setzte sich jeweils die SPD durch. "Aber wo sind eigentlich die Zugeständnisse der SPD", fragte ein CDU-Vorstandsmann verärgert. " Die Gegenseite hat noch nix zugestanden." Verärgerung gibt es hinter vorgehaltener Hand in der Union auch darüber, daß die Parteispitzen faktisch auch in der Gesundheitspolitik schon eingeknickt seien und die im Wahlkampf so vehement verteidigte Gesundheitsprämie bereits stillschweigend vom Tisch genommen sei. "Wir weichen, und die bringen ihre Sachen durch. Das kann es nicht sein", heißt es in der Union.

Kopfschütteln und Verwunderung gab es auch über Stoiber. Ein Superministerium hatte er haben wollen, für Wirtschaft, Technologie und Infrastruktur. Der Wunsch ließ sich nur teilweise realisieren. Die Infrastruktur - sprich: Bau und Verkehr - bekommt Stoiber nicht. Die Zuständigkeit für Arbeit wird vom Wirtschaftsressort abgekoppelt. Stoiber habe damit nun deutlich weniger Kompetenzen als bisher Clement, heißt es in Unionskreisen. Fortan könne Stoiber vormittags beim Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) eine wohlklingende, gut vorbereitete Rede halten und sich abends in der bayerischen Landesvertretung einen netten Abend machen. Viel mehr nicht.

Auch in der Union ist die Ressortaufteilung nicht unumstritten. Manche bedauern, daß das Finanzministerium der SPD zufalle, handele es sich doch hier um das "eigentliche Gestaltungsressort". Überall dort, wo die Union auf Reformen dringe, habe sie es mit SPD-Ministern zu tun - bei Finanzen, Gesundheit, Arbeit. Der Hamburger CDU-Chef Dirk Fischer bleibt trotzdem Optimist. "Die inhaltlichen Positionen sind für die Legitimation einer Koalition sehr wesentlich." Inhalte sind bisher aber kaum geklärt. Das soll jetzt in den Koalitionsverhandlungen geschehen. Und Ex-Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) ist sich sicher: "Das Schwierigste kommt noch."