Bis zur Bundestagswahl sind es zwar noch mehr als 230 Tage, aber schon jetzt beherrscht der 27. September die Berliner Politik. Von nun an wird nur noch der Gegner madig gemacht. Bühne frei für die Wahlkämpfer der Union und SPD.

Berlin. An diesem Morgen hat Ronald Pofalla die silber-hellblau gestreifte Krawatte aus dem Schrank geholt. Im CDU-Präsidium schenkt man diesem Detail keine große Aufmerksamkeit, ganz anders auf der anschließenden Pressekonferenz. Dort geht es um den bevorstehenden Bundestagswahlkampf. Man habe im Präsidium beschlossen, verkündet der Generalsekretär, die Steuerstrukturreform in den Mittelpunkt dieses Wahlkampfs zu stellen. Diese Strukturreform werde "einfach, niedrig und gerecht" ausfallen. Pofalla verspricht eine "wachstumsorientierte Politik" und eine spürbare "Entlastung der Bürger", und während er in seinem rheinischen Singsang fortfährt, schimmert der Schlips wie der berühmte Silberstreif am Horizont.

Ein paar Stunden später im Willy-Brandt-Haus. Frank-Walter Steinmeier und Franz Müntefering postieren sich im Foyer, um die Hauptstadtjournalisten darüber in Kenntnis zu setzen, welche Ergebnisse die Sitzung der Spitzengremien der deutschen Sozialdemokratie erbracht hat. Die Stirn in tiefe Falten gelegt, der Ton getragen - der Kanzlerkandidat, das wird rasch klar, setzt ganz auf den seriösen Auftritt. Die Botschaft, die er heute vermitteln will: Die anderen machen schon Wahlkampf, die SPD verantwortungsvolle Politik in Zeiten der Krise. Die Partei wolle nun das Gespräch mit der deutschen Bevölkerung suchen, wirbt Steinmeier in wohlgesetzten Worten für die Veranstaltungsreihe mit dem ehrgeizigen Titel "Das Neue Jahrzehnt". Damit wollen die Sozialdemokraten demnächst in 35 Städten die Auseinandersetzung um die Macht im Bund einläuten. Auch wenn sie das so nicht sagen. Den Auftakt zum Vortragsreigen wird Steinmeier selbst geben. In Hamburg, am 13. Februar, wo er über nichts Geringeres als "Die Sozialdemokratische Orientierung für das Neue Jahrzehnt" referieren will ...

Berlin, 2. Februar 2009. Bis zur Bundestagswahl sind es noch 237 Tage, aber der 27. September beherrscht bereits die politische Bühne. Noch mehr Beispiele gefällig? Bitte. Am Sonnabend gibt Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen der "Rheinischen Post" ein Interview, in dem sie dem Bundessozialminister vorwirft, eine unzureichende Hartz-IV-Regelung für Kinder erarbeitet zu haben. "Von Grund auf" müsse das neu gemacht werden, verlangt die CDU-Politikerin, und als sich Bundessozialminister Olaf Scholz - ein Sozialdemokrat - empört mit der Bemerkung verteidigt, von der Leyen habe doch während der Beratungen mit am Kabinettstisch gesessen, schiebt sie hinterher, da habe man wohl "einen wunden Punkt" getroffen. Die Retourkutsche kommt postwendend: Am Sonntag erklärt Bundesumweltminister Sigmar Gabriel das Umweltgesetzbuch für gescheitert. Schuld daran, so der SPD-Mann, sei allein die "Blockadepolitik" der Union. Genauer gesagt das unerfreulich renitente Verhalten der Bayern, die die CDU einfach nicht im Griff habe.

Na, wird sich der Wähler denken, das kann ja noch lustig werden in den nächsten Monaten! Ab sofort wird offenbar nicht mehr regiert, von nun an wird nur noch der politische Gegner madig gemacht.

Wie es aussieht, ist die Verabschiedung des zweiten Konjunkturpakets die letzte wirkliche Tat der Großen Koalition gewesen. Wenn auch keine Großtat. Getrieben von Kursabstürzen und anderen Katastrophen rafften sich Union und SPD zwar noch einmal auf, den Bürgern Entschlossenheit und Handlungswillen zu demonstrieren. Aber wer sich das Ergebnis bei Licht betrachtete, erkannte schnell, dass das Paket vor allem deshalb so teuer geworden war, weil beide Seiten ihren Willen durchgesetzt hatten: Wollten die einen einen geringeren Eingangssteuersatz, verlangten die anderen eine Kinderprämie; waren die einen gegen die "Reichensteuer", schossen die anderen mit der "Abwrackprämie" um die Ecke. Regierungspolitik als Wunschkonzert. Inzwischen sind allerdings sogar die Geschenkaktionen abgesagt.

Abgesehen davon, dass sich die Koalitionäre ohnehin sputen müssten, wollten sie gemeinsam überhaupt noch irgendetwas erledigen. Zum Beispiel die Schaffung des Umweltgesetzbuchs, an dem ein Jahr lang vergebens herumgebastelt wurde. Denn alles, was das Kabinett bis März nicht passiert hat, kann gar nicht mehr Gesetz werden. Danach reicht die Zeit für die notwendigen Abstimmungen im Bundestag - und möglicherweise auch im Bundesrat - nicht mehr aus.

Stattdessen wirft die anstehende Wahl des Bundespräsidenten ihre Schatten voraus. Weil die Sozialdemokraten wider alle Vernunft beschlossen haben, Gesine Schwan am 23. Mai ein zweites Mal ins Rennen zu schicken, wird auch das höchste Staatsamt in die parteipolitischen Scharmützel hineingezogen. Die Kandidatin hat dem amtierenden Bundespräsidenten vorgeworfen, er habe den Graben zwischen Politik und Gesellschaft "eher vertieft als überbrückt" - die CDU konterte, diese Kritik an Horst Köhler sei nicht nur unberechtigt, sondern "respektlos". Frau Schwan betreibe einen polarisierenden Wahlkampf, der des Amts "nicht würdig" sei. Apropos Würde: Wenn es in der Auseinandersetzung um Schloss Bellevue schon so unfein zugeht - was darf der Bürger dann erst für die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und im Saarland erwarten? Wo es für Union und Sozialdemokraten ja um die Weichenstellung für die Bundestagswahl geht? In Thüringen ist noch völlig ungewiss, ob CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus nach seinem Skiunfall überhaupt in der Lage sein wird, Rot-Rot zu verhindern. An der Saar tritt SPD-Spitzenkandidat Heiko Maas mit dem Anspruch an, den Linken Oskar Lafontaine als Ministerpräsidenten auszubremsen. Obwohl er ihn als Steigbügelhalter in einer rot-roten Koalition gerne begrüßen würde. Die SPD-Linke Andrea Nahles, die in den letzten Monaten auffällig geschwiegen hatte, hat im aktuellen "Spiegel" gerade gesagt, "dass wir keinen Wie-grenze-ich-mich-von-der-Linkspartei-Wahlkampf machen sollten". Idealer Stoff für Lagerwahlkampfrhetorik. Und Wasser auf die Mühlen der Union, die den Genossen ja sowieso unterstellt, die Linkspartei auch im Bund als Mehrheitsbeschaffer ins Boot holen zu wollen.

Während man in der SPD also um das Verhältnis zur Linken ringt, hat es die CDU-Vorsitzende Angela Merkel mit dem aufgebrachten wirtschaftspolitischen Flügel ihrer Partei zu tun. Ihr haushaltspolitischer Sprecher Steffen Kampeter, bislang ein verlässlicher Getreuer, kritisiert öffentlich die horrende Neuverschuldung. Und Josef Schlarmann, der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU, bejubelt unverhohlen den hessischen Wahlerfolg der Liberalen, die er für die Lordsiegelbewahrer der freien Marktwirtschaft hält.

Aber in diesen Tagen reklamiert ja jede Partei das Copyright auf Krisenbewältigung für sich. Wie pflegt SPD-Parteichef Franz Müntefering zu sagen? "Die Union stellt zwar die Kanzlerin, aber wir haben die Meinungshoheit." Oder hätte dieses Copyright zumindest gerne. Gerade bei den Themen, die die Große Koalition noch bewältigen wollte, und die nun im Strudel des Wahlkampfs versinken. Für die SPD ist klar, dass die CDU an allem schuld ist. Zum Beispiel daran, dass der für morgen avisierte Kabinettsbeschluss zum Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche nicht zustande kommen wird.

Zurück im Willy-Brandt-Haus. "Wir wollen mit der CDU die entscheidenden Dinge noch gemeinsam tun", erklärt Franz Müntefering. Um dann nur einen Satz später die "ärgerliche" Kritik von CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen an den Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder zu geißeln, weil die CDU ja sogar gegen die von Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) durchgesetzte Erhöhung der Bezüge um 35 Euro gewesen sei.

Was das alles über den Zustand der Großen Koalition aussage? Das weiß der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier angeblich auch nicht. Er glaube nicht, dass die Union das alles gemacht habe, um Schwarz-Rot in eine schwierige Lage zu bringen, sagt der Spitzenkandidat scheinheilig. Er sehe jedenfalls "keinen Grund, jetzt in einen Wahlkampfmodus umzuspringen", auch wenn er nicht umhinkomme festzustellen, "dass es rüttelt und ruckelt". Bis zum 19. April will sich die SPD zumindest innerparteilich ausgerichtet haben. Auf einem Konvent soll der Entwurf für ihr Regierungsprogramm vorgestellt werden. Die Union wird im Juni nachziehen. Aber Wahlkampf ist dann natürlich noch lange nicht.