Die Partei fürchtet, beliebig zu werden. Nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen könnte sie links oder bürgerlich regieren.

Berlin/Düsseldorf/Kiel. Die Frau, die man in Nordrhein-Westfalen die Königsmacherin nennt, tritt bescheiden auf. Wer Sylvia Löhrmann mit den Umfragewerten der Grünen konfrontiert, den korrigiert sie sofort nach unten. Zwölf, 13 Prozent? Löhrmann kann sich an eine Umfrage erinnern, in der die Grünen nur bei neun Prozent lagen. Die Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl traut der neuen Stärke ihrer Partei noch nicht über den Weg. Dabei ist sie selbst ein Grund dafür.

Löhrmann hat einen Wahlkampf geführt ohne schrille Töne. Sie hat sich für Rot-Grün ausgesprochen, aber nie Schwarz-Grün abgelehnt.

Diese Offenheit hat ihr nicht geschadet, im Gegenteil. Das ist die neue Linie der gesamten Partei, eine Linie mit einem Schwachpunkt. Wer für alles offen ist, kann an Profil verlieren. Dennoch hat keine andere Partei so große Chancen, nach dem 9. Mai in Nordrhein-Westfalen mitzuregieren. Trotz aller ablehnenden Aussagen auf beiden Seiten: Die Grünen könnten die letzte Rettung für Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) sein, um im Amt zu bleiben. Sie könnten genauso gut Ja sagen zu einem Bündnis mit SPD und Linkspartei. Vielleicht reicht es am Ende sogar für Rot-Grün. Aber zu eng wollen die Grünen mit der SPD auch nicht kuscheln. Sie wollen die Wahl haben. Das gehört zu ihrem neuen Selbstverständnis: Wenn sie wollen, verorten sie sich links. Sie können sich aber auch vorstellen, ökologisches Korrektiv des bürgerlichen Lagers zu sein. In Hamburg und im Saarland üben sie diese Rolle in schwarz-grünen Koalitionen. In Hessen wären sie mit Andrea Ypsilanti ins linke Lager gegangen.

Gäbe es eine Skala, auf der man das Selbstbewusstsein einer Partei ablesen könnte, dann stünden die Grünen dort im Moment ganz weit oben. Die Partei ist so offen, wie sie noch nie war. Und wer in NRW am Sonntag grün wählt, weiß nicht, welchem Regierungschef er damit zur Mehrheit verhilft. Die Grünen selbst finden das ziemlich gut so. Sie sind bei den Bürgerrechten so gelb wie die FDP, bei der Schulpolitik so rot wie die SPD, beim Thema Bundeswehreinsätze im Ausland so schwarz wie die CDU. Hartnäckig ist die Partei nur noch in der Energiepolitik. Der Atomausstieg ist für sie unverhandelbar.

Ein Nachmittag im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Sylvia Löhrmann ist soeben bei einer Parteiveranstaltung aufgetreten. Auf der Bühne hat sie Regierungschef Rüttgers wegen seiner starren Haltung in der Schulpolitik angegriffen. Jetzt sitzt sie am anderen Ende der Halle, um ungestört reden zu können und nun auch mal die SPD anzugreifen: "Hannelore Kraft ist auf Kohle-Kurs. Auch die Energiepolitik der SPD ist für uns problematisch, nicht nur die der CDU." Die Sozialdemokraten sind nicht ihr geborener Koalitionspartner. Nach der Wahl möchte sie mit allen Parteien sprechen. Also verteilt sie auch ihre Kritik an der Konkurrenz sehr sorgfältig. "Wir sind weder Funktions- noch Klientelpartei", sagt sie. Die Grünen, so wie Löhrmann sie sieht, sind unabhängiger und eigenwilliger geworden. "Wir sind die Partei der Nachhaltigkeit, der es um ein grundsätzliches Umsteuern geht." Und mit wem das gehen kann, das will man von Fall zu Fall entscheiden.

In der Berliner Parteizentrale hört man das gern. Dort arbeitet Parteichef Cem Özdemir gerade fleißig daran, die Grünen als neue liberale Partei und als wahre Erbin der Vor-Westerwelle-FDP zu positionieren. "Die FDP ist neben der Linkspartei derzeit leider die zweite fundamentalistische Partei in Deutschland", schimpft er. "Sie will den Staat ruinieren und damit möglichst handlungsunfähig machen. Die Linkspartei glaubt dagegen, der Staat könne alles richten", beschreibt Özdemir seine Sicht auf die Parteien. Genau in der Mitte dieses Spektrums sind die Grünen seiner Meinung nach angekommen - als dritte Partei für die Masse neben Union und SPD. "Zwischen den Extremen Linkspartei und FDP befindet sich die Mehrheit der Deutschen", sagt er. Auf diese Mehrheit schielt er und beruft sich auf eine Umfrage, wonach 48 Prozent der Deutschen sich vorstellen können, die Grünen zu wählen.

In Schleswig-Holstein können sich das sogar 60 Prozent der Wähler vorstellen. Das hat viel mit Robert Habeck zu tun. Der Schriftsteller, der bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr 12,4 Prozent holte und nun die Fraktion im Kieler Landtag führt, gilt als einer der wichtigsten Vordenker seiner Partei. Im Wahlkampf hatte er sich alle Bündnisse offengehalten und so das beste Ergebnis der Nord-Grünen aller Zeiten eingefahren. Habeck beobachtet das Wachstum der NRW-Grünen mit Genugtuung. Für ihn müsste die Partei überall so groß werden wie in seiner Heimat.

Er glaubt, dass sich die Grünen in den nächsten Jahren "zwischen 15 und 25 Prozent" einpendeln werden. Gleichzeitig prophezeit er CDU und SPD, langfristig bei 25 Prozent zu stagnieren. Die neuen, großen Grünen, so sieht es Habeck in seinem Kieler Landtagsbüro, sollten grundsätzlich zu einer Partei ohne Koalitionsaussage werden. "Offen für alle Bündnisse zu sein birgt Gefahren", gibt er zu. "Aber es ist immer die mutigere Linie, nichts auszuschließen. Ich stehe für diese Linie."

Auch in Nordrhein-Westfalen könnte diese Strategie aufgehen. Und Habeck will, dass die Grünen dort regieren. "Opposition ist eine Möglichkeit zur Gestaltung, aber man muss regieren wollen." Er selbst hätte wohl mit der CDU koaliert, wenn es für Schwarz-Gelb nicht gereicht hätte. Aber ihn treibt auch die Furcht um, als Partei beliebig zu werden. "Die Grünen sollten sich nie als Volkspartei verstehen. Volkspartei zu sein heißt, immer Konsens zu suchen. Dieser Weg scheidet für uns aus." Groß werden und radikal bleiben, so stellt er sich die Grünen vor. "Was machen wir mit unserer neuen Stärke?", fragt er sich. Seine Antwort: "Jetzt muss etwas kommen. Die Partei braucht einen Anspruch, der über ihr jetziges Selbstverständnis hinausgeht."

Es geht um neue Wählermilieus, um die Wirtschaftskapitäne, die Konservativen, das Bürgertum. Der Bonner Politologe Gerd Langguth hat bereits eine drastische Wandlung festgestellt: "Früher waren die Grünen eine Anti-Parteien-Partei." Mittlerweile seien sie eine liberale, neobürgerliche Partei. "Sie kämpfen um die gleichen Wähler wie die FDP: Besserverdienende und Gutgebildete", sagt Langguth. Mit den Liberalen haben die Grünen so ihre Probleme. Auch Sylvia Löhrmann will in ihrer Offenheit gegenüber der Konkurrenz auf keinen Fall mit der FDP in eine Regierung. Das hat auch persönliche Gründe. Ihr ist die Partei, die sie "marktradikal" nennt, fremd geworden.

Das war einmal ganz anders. Löhrmann war 19 Jahre alt, als sie etwas tat, was ihr heute ein bisschen peinlich ist. Es geschah bei der Bundestagswahl 1976. Löhrmann stand in der Wahlkabine und schenkte ihre Stimme der FDP. Sie tat es nie wieder. Drei Jahre später gab es die Grünen.