Der Hamburger Europa-Politiker der Grünen, Manuel Sarrazin, über die Krim-Krise, Putins Machtgehabe und was wir 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg lernen können.

Berlin. Der Hamburger Historiker und Europa-Politiker der Grünen, Manuel Sarrazin, reiste während der Krise in die Ukraine. Gerade war er auch in Serbien und Bosnien. Vor 100 Jahren bracht auf dem Balkan der Erste Weltkrieg aus. Die Krim-Krise zeigt, wie fragil der Frieden in Europa auch heute noch ist. Ein Gespräch über das Referendum auf der Krim – und was die Europäische Union von der Vergangenheit lernen kann.

Hamburger Abendblatt: Die Menschen auf der Krim stimmten für einen Beitritt zu Russland, die EU droht mit Sanktionen, und Russlands Panzer stehen vor ukrainischen Kasernen. Wird der Regionalkonflikt zu einer Weltkrise?
Manuel Sarrazin: Sobald ein Schuss auf der Krim fällt, kann viel passieren. Die Gefahr der Eskalation ist durch das Referendum gewachsen. Man muss es klar sagen: Russland führt schon jetzt einen Krieg ohne Schüsse. Militärs blockierten die ukrainische Flotte oder besetzten ukrainische Kraftwerke. Russlands Staatschef Putin tut alles dafür, die Ukraine zu destabilisieren. Es ist wichtig, dass die EU mit Sanktionen gegen das Prestige Putins reagiert: Der geplante G8-Gipfel in Sotschi kann nicht stattfinden. Ein klares Signal wäre der Ausschluss aus G8 und der Welthandelsorganisation.

Russland sieht sich als Schutzmacht der ethnischen Russen auf der Krim. Und nimmt das zum Anlass, mit Gewalt Grenzen neu zu ziehen.
Sarrazin: Mit diesem Argument öffnet man eine Büchse der Pandora. Wenn Grenzen mit dem Vorwand neu gezogen werden, ethnische Gruppen zu schützen, dann sind wir keinen Schritt weiter als 1914. Vor dem Ersten Weltkrieg heizte der Nationalismus die Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Russland an. Das Habsburg-Imperium kämpfte gegen serbische Separatisten im annektierten Bosnien und Herzegowina. Russland vertrat einen aggressiven Panslawismus. An Letzteren erinnert das Argument Moskaus in der Ukraine. Was die EU und Russland aus der Krise von 1914 für heute lernen können: Der Dialog darf nicht abreißen und dem Nationalismus weichen.

Ist die Welt eine andere als 1914?
Sarrazin: Heute herrscht großes Vertrauen in den Frieden. Das war aber auch 1914 so. Kaum einer glaubte damals an einen brutalen Krieg. Viele Eliten in Deutschland und anderswo wollten einen kurzen Krieg riskieren, vor allem um innenpolitisch mit nationalem Großmachtgehabe an Prestige zu gewinnen. 1914 hieß es, die Welt sei wirtschaftlich so eng verwoben, dass aus ökonomischer Vernunft niemand einen Krieg riskieren würde. Auch heute herrscht großer Glaube in die Kraft der Wirtschaft für den Frieden. Darauf darf man sich nicht verlassen.

Die Welt teilt sich nicht mehr in Imperien. Das Gefüge vieler einzelner Staaten ist komplexer geworden. Haben es Nationalisten heute wieder so leicht wie 1914?
Sarrazin: Heute funktionieren die europäischen Staaten besser. Sie sind in eine Verwaltung eingebettet, national und auf EU-Ebene. Und demokratisch regiert. Einzelne Nationalisten und Kriegstreiber dringen weniger durch. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung in Russland sehr besorgniserregend. Hier fehlen Checks and Balances in Politik und Öffentlichkeit, mit Ausnahme der zum größten Teil ins Internet abgedrängten Kritiker Putins.

Putin argumentiert, dass die Nato 1999 Jugoslawien zum Schutz der Kosovo-Albaner bombardierte.
Sarrazin: Damals hat es gewalttätige Übergriffe gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo gegeben. Das ist auf der Krim nicht der Fall. Auch eine ethnische Unterscheidung in „Russen“ und „Ukrainer“ ist ein Konstrukt und gefährlich. Putin sieht sich als panslawische Schutzmacht und wünscht sich den Homo Sovieticus zurück in einem Großreich unter der Führung Moskaus. Aber Putin akzeptiert nicht, dass aus dem Sowjetreich längst unabhängige Staaten wie die Ukraine erwachsen sind, die sich nach Europa orientieren und nicht nach Moskau.

Auch in Serbien gibt es traditionell starke prorussische Kräfte. Wird Serbien die nächste Krim?
Sarrazin: Setzt sich Putins Prinzip einer Politik auf ethnischen Prinzipien durch, kann das auch in Serbien funktionieren. Die prorussischen Kräfte auf dem Balkan könnten gegen die proeuropäischen Parteien mobil machen. Das zeigt vor allem eines: Die Integrationspolitik der Europäischen Union ist auf dem Balkan 100 Jahre nach dem Weltkrieg nicht abgeschlossen. Die Beitrittsverhandlungen mit Serbien müssen gerade mit Blick auf die Krim-Krise energisch vorangetrieben werden.