Nach neuen Drohungen aus Nordkorea rätseln die USA und bauen gleichzeitig ein Abwehrsystem im Pazifik auf. China fürchtet sich vor einer nuklearen Katastrophe.

Washington/Peking. Wieder einmal hat es US-Präsident Barack Obama auf dem falschen Fuß erwischt. Wie bereits beim Arabischen Frühling – auch die jüngste Krise mit dem Dauerfeind Nordkorea hat in Washington so niemand kommen sehen. Fast täglich schaukeln sich die Spannungen hoch. Noch reagieren die USA mit einer Doppelstrategie: Verbal signalisiert die Weltmacht, dass sie das Säbelrasseln aus Pjöngjang nicht übermäßig beunruhigt, dass man noch keine nordkoreanischen Soldaten im Anmarsch sieht. Doch zugleich bringt das Pentagon Kriegsschiffe und Tarnkappenflugzeuge in Stellung. Im Grunde herrscht Ratlosigkeit: Wie gefährlich ist die Lage wirklich?

Die Parole im politischen Washington ist klar definiert: Ball flach halten! Den Konflikt herunterspielen, bloß nichts rhetorisch anheizen! Täglich melden sich die Sprecher im Weißen Haus und im State Department zu Wort, um zu konstatieren, dass es noch keine Truppenbewegungen in Nordkorea gebe. Noch handele es sich lediglich um „kriegerische Rhetorik“, die nicht durch Taten gestützt sei. „Es gibt hier ein Schema, und wir sind vertraut mit diesem Schema“, versucht Regierungssprecher Jay Carney zu deeskalieren – wirklich beruhigen kann das nicht.

Doch der neue Verteidigungsminister Chuck Hagel schlägt auch andere Töne an. „Wir nehmen diese Bedrohung ernst“, warnt er. Zugleich versucht die Supermacht, nicht den Funken eines Zweifels daran aufkommen zu lassen, dass sie notfalls zu den Waffen greifen würde. „Damit es ganz klar ist“, betont der neue Außenminister John Kerry mit eisiger Miene, „die Vereinigten Staaten werden sich selbst und unseren Verbündeten Südkorea verteidigen und beschützen.“ Und gleichsam im selben Atemzug schickt das Verteidigungsministerium raketenbestückte Zerstörer in den Westpazifik. Auch Tarnkappenjets überfliegen die Region, auf der Pazifikinsel Guam wird ein Rakatenabwehrsystem installiert – klares Zeichen dafür, wie ernst Washington den Konflikt nimmt. „Man braucht nur einmal falschzuliegen, und ich möchte nicht der Verteidigungsminister sein, der falschliegt“, sagt Hagel. Nach wie vor haben die USA über 28.000 Soldaten in Südkorea stationiert. Als „volatil“ und „gefährlich“ bezeichnet ihr Kommandeur, General James Thurman, die Lage. Seine größte Angst: „Miscalculation“ – „Fehlkalkulationen“.

„Miscalculation“ ist zum Schlüsselwort in Washington geworden, wenn es um die Korea-Krise geht. Die Krux: Es gibt so gut wie keine direkten Kontakte mit Pjöngjang, der nach wie vor eher unerfahrene Machthaber Kim Jong-un gilt als Buch mit sieben Siegeln, als Sicherheitsrisiko. Nicht ausgeschlossen, dass er sich beim Machtpoker verzockt. Kritiker wie der Korea-Experte Mike Chinoy monieren, dass auch Obama bisher keine echten Bemühungen unternommen hat, unter der Hand Kontakte zu knüpfen. „Die US-Politik gegenüber Nordkorea funktioniert nicht“, meint er. „Bislang war das Bellen Nordkoreas schlimmer als der Biss“, räumt zwar auch er ein. Doch nur direkte Gespräche mit Kim Jong-un könnten die Lage deblockieren.

Andere Experten sehen das anders. Der neue starke Mann in Pjöngjang sei resistent gegen jeden Einfluss von außen, meint Asien-Expertin Kongdan Oh vom Washingtoner Brookings-Institut – es sei denn, die Ratschläge kommen aus Peking. „Es scheint so, als könnte Kim Jong-un nur durch die Wut seines eigenen Volkes oder durch scharfen Druck der Chinesen zu beeinflussen sein. Niemand sonst hat Einfluss auf ihn.“ Auch der Korea-Experte Scott Snyder vom Council on Foreign Relations, einem Thinktank in Washington, sieht die größte Kriegsgefahr derzeit darin, dass eine Seite die andere schlichtweg falsch einschätzt. Zwar macht auch er aktuell keine nennenswerten Truppenbewegungen im Norden aus. Doch seine Furcht geht in eine ganz andere Richtung: gezielte „Provokationen im Guerilla-Stil“ – und zwar gerade dann, wenn der Gegner sie nicht erwartet. „Nordkorea setzt normalerweise auf den Überraschungseffekt“, meint Snyder. „Ich mache mir mehr Sorgen um Nordkorea, wenn es nicht mit dem Säbel rasselt.“

Auch das Nachbarland China, der letzte Verbündete des Regimes in Pjöngjang, ist höchst beunruhigt über die Eskalation auf der koreanischen Halbinsel. „Die Generäle machen sich große Sorgen“, sagt eine Quelle mit langjährigen, persönlichen Beziehungen zu hohen Militärs. Angesichts des Säbelrasselns Kim Jong-uns und der großen Spannungen werde befürchtet, dass ein dummer Zufall eine Konfrontation auslösen könnte „und Nordkorea in Flammen steht“. Für diesen Fall gebe es Planungen: Chinesische Streitkräfte sollten schnell versuchen, die nuklearen Anlagen in Nordkorea unter Kontrolle zu bringen und zu sichern, um Schlimmeres zu verhindern.

„Niemand spricht von der Gefahr, dass in Nordkorea so etwas wie in Fukushima passieren könnte“, habe einer der Generäle jüngst in einem vertraulichen Gespräch gewarnt. Die chinesischen Streitkräfte bereiten sich nach seinen Angaben auch darauf vor, größere Flüchtlingsströme an der koreanisch-chinesischen Grenze zu bewältigen. Nichts davon wird allerdings offiziell bestätigt. Fast gebetsmühlenartig ruft Chinas Regierung nun alle Parteien zur Zurückhaltung und zum Dialog auf. „Die Situation auf der Halbinsel ist derzeit heikel und schwierig“, sagt der Sprecher des Außenministeriums, Hong Lei. Auch in Asien rätseln alle: Lässt der junge nordkoreanische Führer seinen Drohungen auch Taten folgen oder blufft er nur? „Kim Jong-un ist gefährlich“, warnt Kim Heung-kyu, Professor an der Sungshin-Universität in Seoul und Experte für die Beziehungen zwischen China und Nordkorea in Peking. „Er ist jung, unerfahren, und es drängt ihn, seinem Volk zu zeigen, was für ein großer Führer er ist.“ Der Professor sieht hinter dem Kriegsgetrommel vor allem innenpolitische Gründe. Der neue Militärführer müsse seine Macht erst konsolidieren. Wie andere Experten auch hält Heung-kyu zwar einen großen Schlag gegen die USA mit Langstreckenraketen nicht für möglich, wohl aber militärische Provokationen gegen Südkorea oder dort stationierte US-Streitkräfte. „Sie werden auf Militäranlagen oder wissenschaftliche Einrichtungen zielen, was enormen Ärger auslösen wird“, glaubt der Professor.

Die nahezu täglichen Drohungen heben sich nach Einschätzung ausländischer Experten auch von denen früherer Krisen ab. Es habe „eine neue Qualität“, berichtet der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Manfred Grund, der gerade Nordkoreas Hauptstadt besucht hat. „Alle sagen, die Gefahr sei groß“, fasst er in Peking seine Gespräche zusammen. „So weit sei es noch nie eskaliert.“ Auch die offizielle „Verteidigungsbereitschaft“ sei früher nie ausgerufen worden, egal wie angespannt die Lage gewesen sei.

Aus seinen Gesprächen in Pjöngjang hat der Politiker den Eindruck mitgenommen, dass die Lage auf nordkoreanischer Seite „nicht mehr rational gesehen wird“. Nordkorea sei verärgert über China und Südkorea, aber rege sich vor allem über die USA auf. Die vorherrschende Lesart sei: „Die USA haben die ganze Welt und den Uno-Sicherheitsrat aufgehetzt. Sie sehen nicht, dass sie allein auf der Gegenfahrbahn sind.“ Die Militärmanöver der USA mit Südkorea würden als große Provokation empfunden. Sie wähnten sich „in einem Heiligen Krieg“ und glaubten, die USA wollten ihre Wirtschaftskrise „durch die Entfesselung eines neuen Korea-Krieges lösen. Sie haben das Gefühl, sie stünden unmittelbar vor einem Nuklearkrieg.“