Das Abendblatt erklärt in einer Serie die gefährlichsten Konfliktherde der Welt. Heute: der uralte Konfliktherd im Zentrum Asiens.

Hamburg . Am 14. Juni 1842 wurden die beiden Briten Arthur Conolly und Charles Stoddart auf dem Platz vor der alten Ark-Zitadelle von Buchara im heutigen Usbekistan enthauptet.

Sie galten dem lokalen Herrscher, Emir Nasrullah Khan, als Spione - was sie auch waren. Conolly - Offizier, Diplomat, Abenteurer und Geheimagent der britischen Königin Victoria - kam gerade aus Afghanistan und war letztlich in doppelter Hinsicht gescheitert: Er hatte versucht, die Russen aus Zentralasien herauszuhalten - sie eroberten später auch das Emirat von Buchara -, und er hatte seinen Offiziers- und Diplomatenkollegen Stoddart vor dem Schwert des Henkers retten wollen.

Conolly wäre heute wohl vergessen, hätte er nicht in einem Brief an einen Freund einen Begriff geprägt, der bis heute Verwendung findet: "The Great Game". Das "große Spiel" - damit wird das historische Ringen zwischen der damaligen Supermacht Großbritannien und dem zaristischen Russland vor allem um Afghanistan bezeichnet, ein Kampf, der sich eineinhalb Jahrhunderte später in dem vom Westen unterstützten Krieg gegen die sowjetischen Invasoren widerspiegeln sollte. Der aus altem bergischen Adelsgeschlecht stammende russische Kanzler und Außenminister Karl Robert von Nesselrode (1780-1862) verwendete hingegen das Wort vom "Turnier der Schatten" - was heute hervorragend auf den Kampf der Spezialeinheiten und Geheimdiensttruppen am Hindukusch passt.

Das zerklüftete Bergland Afghanistan, in seiner heutigen Form knapp doppelt so groß wie Deutschland und seit 1919 unabhängig von Großbritannien, gilt als "Friedhof der Großmächte". In der Antike waren es Perser, Griechen, Parther, Türken und indische Moguln, die den unbändigen Freiheitswillen der Afghanen zu spüren bekamen, in der Neuzeit dann Briten und Russen, gegenwärtig eine US-geführte westliche Allianz unter deutscher Beteiligung. Die heute rund 35 Millionen Afghanen sind gespalten in zahlreiche, zum Teil erbittert miteinander verfeindete Ethnien, von denen die Paschtunen vor den Tadschiken, Hazara, Usbeken und anderen die arrogant dominierende ist. Die Menschen sind ebenso hart wie das Land. Es zählen die Stämme und Familien sowie die Religion, eine nationale Identität gibt es nicht. Bürgerkrieg ist zum blutigen Alltag geworden; der Afghane ist stolz auf seine Waffen und seine Kriegerehre.

Im 20. Jahrhundert war Afghanistan binnen weniger Jahrzehnte nacheinander ein Königreich, eine Republik, eine kommunistische Volksrepublik und de facto eine sowjetische Kolonie. Die Sowjets scheiterten spektakulär zwischen 1979 und 1989 und hinterließen neben zahllosen afghanischen Toten auch 18.000 eigene Gefallene.

Nach dem Sieg wandten sich die Mudschaheddin-Rebellen gegen ihre amerikanischen Waffenbrüder. Diese chaotische Nachkriegszeit war die Geburtsstunde nicht nur des radikalislamischen Terrornetzes al-Qaida des Saudis Osama Bin Laden, der gegen die sowjetische Armee gekämpft und Milizionäre rekrutiert hatte, sondern auch der Taliban, die bis heute große Teile Afghanistans kontrollieren. Ursprünglich stammten die Taliban - das Wort bedeutet Studenten - aus Islam-Schulen für afghanische Flüchtlinge in Pakistan. Sie traten zuerst 1994 in Kandahar in Erscheinung und eroberten nach und nach weite Gebiete des Landes - im September 1996 auch die Hauptstadt Kabul - und errichteten mit blankem Terror das "Islamische Emirat Afghanistan", einen radikalislamischen Gottesstaat. Frauen wurden praktisch in Hausarrest gehalten. Jegliche Zuwiderhandlung gegen die intoleranten Regeln wurde mit grausamsten Körperstrafen geahndet. Während der Herrschaft der Taliban kam es zu zahlreichen Massakern an Afghanen. Und die Kulturfeindlichkeit der Taliban ist mit dafür verantwortlich, dass rund 90 Prozent der afghanischen Frauen heute Analphabeten sind. Allerdings können auch die meisten Männer kaum lesen und schreiben. Al-Qaida nistete sich derweil mithilfe der verbündeten Taliban fest in Afghanistan ein.

Die beste Chance des Landes auf Fortschritt aus eigener Kraft bestand in der Person von Ahmed Schah Massud, des "Löwen von Pandschir". Der charismatische Tadschike, 2002 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, war Führer des afghanischen Widerstandes gegen die Taliban; er sah die Demokratie als einzige Staatsform an, die dem Land Frieden und Wohlstand bringen würde. Massud fiel am 9. September 2001 einem Selbstmordattentat von al-Qaida zum Opfer. Nur zwei Tage später verübten Al-Qaida-Terroristen die Anschläge mit fast 3000 Toten in den USA.

Der damalige USA-Präsident George W. Bush stellte den Taliban ein Ultimatum, die Drahtzieher auszuliefern. Und als Taliban-Chef Mullah Omar dies ablehnte, begann Amerikas Einsatz in Afghanistan, der mit dem Sturz der Taliban keineswegs beendet war. Noch immer stehen 130.000 westliche Soldaten am Hindukusch. Nächstes Jahr wollen sie ihren Kampfeinsatz beenden. Was dann aus Afghanistan wird, ist offen; die wiedererstarkten Taliban warten auf ihre Chance.

Eigentlicher Gegenspieler des Westens ist Pakistan - offiziell zugleich Alliierter im Kampf gegen den Terrorismus. Pakistans früherer Präsident Pervez Musharraf hatte schon gegen den prowestlichen Massud insgeheim mehr als 30.000 pakistanische Soldaten in Afghanistan ins Gefecht geschickt.

Die islamische Atommacht Pakistan will kein geeinigtes, friedliches und womöglich prowestliches Afghanistan an ihrer Flanke. Und Teile des mächtigen pakistanischen Geheimdienstes ISI unterstützen und bewaffnen Taliban wie al-Qaida, um dem als korrupt und unfähig geltenden Regime des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai das Leben schwer zu machen. Arthur Conellys "Great Game" läuft noch immer - im Falle Pakistan sogar als Doppelspiel.

Nächste Folge: Irak