Der türkische Regierungschef Erdogan will Islam und Moderne vereinen. Und sein Land zur Macht gegen den Westen aufbauen.

Ankara. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wurde am Sonntag zum dritten und letztmöglichen Mal zum Führer seiner Regierungspartei AKP gewählt. So lautet die kurze Nachricht. Die ausführlichere müsste davon künden, dass nichts mehr so ist, wie es zu Beginn von Erdogans Anfangszeiten an der Macht war. Die Türkei heute ist fast das Gegenteil des Landes, welches sie damals war - und Erdogans Ton ist das Gegenteil des Geistes aus den Anfangszeiten.

Damals, Anfang der 2000er-Jahre, war die EU das große Ziel, der Aufbruch nach Westen das Hauptthema. Diesmal erwähnte Erdogan in seiner zweieinhalbstündigen "Krönungsrede" die EU nicht ein einziges Mal. Die regierungsfreundlichen, also islamisch orientierten Medien, berichteten stolz von "mehr als 200 Delegierten aus dem Ausland". Aber der Einzige, der nicht aus einem muslimischen Land war, war Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Das mag daran liegen, dass die Türkei von sich aus die EU ächtet, solange der griechische Teil Zyperns die Ratspräsidentschaft innehat.

Am frenetischsten gefeiert unter all den Gesandten aus anderen Ländern wurde aber Khalid Meschal, der Führer der radikalen, im Westen als Terrororganisation betrachteten palästinensischen Hamas-Miliz. Ganz in dessen Sinne war Erdogans Gelübde, die Beziehungen der Türkei zu Israel "niemals zu normalisieren", solange die Blockade von Gaza nicht aufgehoben werde und Israel sich nicht für den Tod von neun türkischen Militanten entschuldige und deren Familien entschädige. Die neun Männer waren im Mai 2010 von israelischen Kommando-Soldaten getötet worden. Zuvor hatten sie die Soldaten gewaltsam angegriffen, als diese das Schiff "Mavi Marmara" zu entern versucht hatten. Es war von einer islamisch-fundamentalistischen Organisation nach Gaza geschickt worden, um die Blockade zu durchbrechen. Was den Aufbruch der Türkei nach Westen betrifft, dafür verwendete Erdogan in seiner Grundsatzrede ein ganz neues Symbol. Das Endziel des langen Weges, das erst seine Nachfolger erreichen würden, sei "2071", sagte er an die Adresse der türkischen Jugend. Dann nämlich jährt sich zum 1000sten Mal die Schlacht von Manzikert, in der die Türken das byzantinische Reich entscheidend schlugen und Anatolien in Besitz nahmen. "Unser Vorbild ist Sultan Arp Arslan", der damals gegen die Christen siegreiche Kriegsherr, verkündete Erdogan unter dem begeistertem Applaus von rund 30 000 AKP-Anhängern. Nur 10 000 passten in die Kongresshalle, 20 000 verfolgten seine Rede auf Monitoren außerhalb der Halle.

Erdogans Rede war ein ideologisch durchwirktes Signal an die islamische Welt. Er betonte, dass die Türkei gezeigt habe, dass der Islam modern und demokratisch sein könne. Das Land (und also er selbst, der es zu dem machte, was es heute ist) sei damit ein Vorbild für die ganze islamische Welt. Wie um das zu unterstreichen, hatte auch der neue ägyptische Präsident Mohammed Mursi den Kongress mit seiner Anwesenheit beehrt. Er formulierte zwar etwas differenzierter, die Türkei sei "einer der Führer der Region", wobei er Ägypten wohl als einen zweiten Führer sah.

Ein zumindest vorübergehendes Zusammenrücken der beiden Champions des neuen politischen Islam war unübersehbar: In wenigen Wochen, so wurde verkündet, werde Erdogan nach Kairo reisen, mit fast seiner gesamten Regierung, und dann würden "Entscheidung von großer Reichweite" verkündet werden. Ägypten und die Türkei sind traditionell Rivalen, wenn es um die Führungsrolle in der Region geht. Mursi scheint aber entweder religiöse Gemeinsamkeiten pflegen zu wollen oder in der noch labilen Übergangsphase in Ägypten die volle Unterstützung der Türkei zu brauchen.

Die eher marginale islamische Zeitung "Milat" brachte mit ihrer Schlagzeile die Inbrunst von Erdogans Anhängern am besten auf den Punkt: "Führer der Welt" titelte sie zu Erdogan - also nicht nur der islamischen Welt. Dazu passte Erdogans sehr selbstbewusster, fast drohender Ton gegenüber Russland und China. Sie müssten endlich ihre Unterstützung für den syrischen Machthaber Baschar al-Assad aufgeben, sagt er, sonst würden sie als Unterstützer der Unterdrückung von der Geschichte bestraft.

Ebenso passend für das neue türkische Machtstreben war das Motto des Kongresses: "Große Türkei, große Macht". Ob nun Erdogan das Zeug dazu oder auch nur den Ehrgeiz hat, Führer der Welt oder auch nur der islamischen Welt zu werden, muss sich noch zeigen. Dass er aber der Führer der Türkei ist und auf absehbare Zeit zu bleiben beabsichtigt, daran wollte er keinen Zweifel aufkommen lassen. Er deutete an, im Jahr 2014 zur Präsidentenwahl antreten zu wollen, nachdem die gegenwärtige Verfassung für ihn keine weitere Amtszeit als Ministerpräsident zulässt. Zugleich soll die versprochene neue Verfassung ein politisches System errichten, das die Macht eines Präsidenten Erdogan vergrößern würde. Die Rede ist von einem präsidentiellen oder "halbpräsidentiellen" System. Er wolle der Nation weiter dienen, sagte Erdogan, der Titel sei nicht so wichtig, und er nannte ein weiteres geschichtsträchtiges Datum: 2023. Das wäre der 100. Jahrestag der Gründung der modernen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk.

So machte Erdogan zumindest in Symbolen klar, als wen er sich selbst sieht: Als einen neuen Atatürk, der das Land modernisiert, und als neuen Sultan, der die Türken und den Islam siegreich gen Westen führt. "Wenn es Gottes Wille ist, werden wir 2023 aufbauen, und ihr werdet 2071 errichten", sagte er zum Jubel besonders der Jüngeren unter seinen Zuhörern.