Studie zeigt: Jeder zweite Amokläufer ist ein Nachahmungstäter. Auch die Mörder von Columbine, die 13 Menschen töteten, hatten sich vor der Tat abgesondert.

Hamburg. Die Warnung, die der frühere FBI Special Agent und Amok-Experte Gregg McCrary nach dem Drama in Virginia auf CNN aussprach, war unverblümt drastisch. In den nächsten Wochen sei mit Nachahmungstätern zu rechnen, "so war es immer". Die Amerikaner sollten "sehr, sehr wachsam" sein.

Leider nicht nur die Amerikaner. Auch in Deutschland warnen Experten.

Das große Echo der Tat in der Öffentlichkeit fordere Trittbrettfahrer geradezu heraus, sagt der Gießener Kriminologe Arthur Kreuzer. Schon nach dem Amoklauf in Emsdetten 2006 hatte der Aachener Psychiater Micha Hilgers gesagt: Die "enorme öffentliche Aufmerksamkeit, ja Hysterie, ist quasi Balsam auf die verletzten Seelen derjenigen, die für Amoktaten infrage kommen".

"Verletzte Seelen": Amokläufer sind oft junge Männer, die mit Ängsten und Frustrationen isoliert sind und sich unter Gleichaltrigen als Versager oder Außenseiter fühlen. Deshalb sind sie fasziniert, wenn sie sehen, dass andere mit einer Gewaltexplosion berühmt werden.

Dass sogar fast die Hälfte aller Amokläufe Nachahmungstaten sind, belegt jetzt eine noch unveröffentlichte deutsch-amerikanische Studie, aus der die "ÄrzteZeitung" am Dienstag zitierte. Forscher aus Würzburg, Mannheim, den US-Bundesstaaten Michigan und New Jersey untersuchten statistisch 143 Amokläufe weltweit, über die zwischen 1993 und 2001 in Medien berichtet wurde. Sie verteilten sich nicht zufällig übers Jahr, sondern ballten sich: 44 Prozent von ihnen folgten innerhalb von zehn Tagen auf eine medienbekannte Tat.

Ein Beispiel: Mitte der 90er-Jahre feuert ein junger Australier, Mitglied eines Schießklubs, in Armeekleidung wahllos auf Fußgänger. Zehn Tage später macht ein junger Mann in Hungerford (Großbritannien) im Kampfanzug dasselbe. "Die Imitation von Amoktaten geht über Länder und Kontinente hinweg", sagte Professor Armin Schmidtke von der Universität Würzburg.

Der Psychiater Dr. Lothar Adler, Ärztlicher Direktor des Ökumenischen Hainich-Klinikums in Mühlhausen, suchte in einer eigenen umfassenden Untersuchung weltweiter Amokfälle nach Tätermerkmalen. Die Motive seien letztlich meist "banal" - Geldnöte, Schulprobleme, Trennungen, Kontaktstörungen. Die jungen Männer sind zwar überdurchschnittlich oft von Depressionen, manchmal auch von Psychosen betroffen - auf eine Psychose tippen Experten jetzt auch bei dem Täter in Virginia -, aber nicht zwingend. Zwar stellt Adler insgesamt einen Rückgang von Amokläufen fest, anteilig aber einen Anstieg bei Jugendlichen - und zwar nach dem Drama an der Columbine Highschool 1999 in Littleton (USA). Danach hätten sich erstmals auch in Deutschland Amokläufe von Heranwachsenden gehäuft.

Das Columbine-Drama ging als bis dahin größtes je von Teenagern verübtes Massaker durch alle Medien, Michael Moores Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" gewann sogar einen Oscar. Die Täter, Eric Davis und Dylan Klebold (17 und 18), hatten sich zuvor intensiv mit dem Bombenanschlag von Timothy McVeigh 1995 in Oklahoma City (168 Tote) beschäftigt. Über die Vorbereitungen zu ihrem Waffengang drehten sie fünf Videos.

  • Kimveer Gill (25), der im September 2006 am Dawson College in Montreal ein Mädchen tötete und 19 Menschen verletzte, hatte u. a. in seinem Blog auf einer Gothic-Website als "Todesengel" mit Waffen posiert und war Fan des Computerspiels "Super Columbine Massacre".
  • Tage nach Gills Tat wurden in den USA drei Heranwachsende festgenommen, die ein Columbine-Drama an ihrer Schule planten und bereits Gewehre und Bomben angesammelt hatten.
  • Der 18-jährige Bastian B., der im November 2006 an einer Realschule in Emsdetten 37 Menschen verletzte, kam im schwarzen Trenchcoat (wie die Columbine-Täter), hatte zuvor ein Columbine-Video und eigene Erschießungsszenen ins Internet gestellt.
  • Bald nach Emsdetten gingen bei der Polizei im gesamten Bundesgebiet Drohungen von Trittbrettfahrern ein, in Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, allein in Nordrhein-Westfalen 82.
  • Auch Robert Steinhäuser, Täter von Erfurt, hatte ein Colombine-Video auf seiner Festplatte.

Selbstinszenierung im Internet, Hass-Tiraden, offene oder versteckte Drohungen: Alles deutet darauf hin, dass "Columbine" eine Art Blaupause für zahlreiche Folgetaten geworden ist - und eine Initialzündung für Gefährdete, die bereits aufgefallen waren.