Sechs Jahre lang wurde Clara Rojas im Dschungel Kolumbiens von linksextremistischen Rebellen als Geisel festgehalten, zusammen mit ihrer Parteifreundin, der früheren Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt. Unter Lebensgefahr brachte sie in der Haft einen Sohn zur Welt, den sie erst nach Jahren wiedersehen durfte.

Zuerst erschien es wie der blödeste Zufall von allen denkbaren. Wie eine empörende Ungerechtigkeit des Schicksals. Aber kann man das Schicksal verklagen?

Am 23. Februar 2002 starten Ingrid Betancourt und Clara Rojas zu einem Wahlkampftermin in den Süden Kolumbiens. Sie wissen, dass der Weg durch das Gebiet der FARC-Guerilla führt. Die beiden Spitzenkandidatinnen der Umweltpartei Partido verde oxigeno wollen sich aber nicht einschüchtern lassen. Als zwei extra bestellte Hubschrauber ausfallen, müssen sie mit einem Jeep fahren, ohne Sicherheitspersonal - und geraten prompt in einen Hinterhalt. Noch am Abend erhält Clara Rojas' Vater ein Fax, dass seine Tochter Geisel der FARC sei. Sie wird es sechs endlose Jahre bleiben.

Heute weiß Clara Rojas, "dass ich an jenem Tag das Opfer einer heroischen Illusion geworden war - wenn ich nicht gar eine grobe Dummheit begangen hatte", schreibt sie in ihren Memoiren. "Fest steht, dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort war."

Sie hat eine sanfte, melodische Stimme, die in seltsamem Gegensatz zu ihren fast strengen Gesichtszügen steht. Eine zarte, sehr ernsthafte Frau in dezentem Hosenanzug, die Gesten sparsam einsetzt und selten lächelt. Clara Rojas' Zurückgenommenheit scheint eine Hülle zu sein, in der sie sich sicher fühlt. In ihrem Buch, über das wir sprechen, offenbart sie weit mehr von ihrer Persönlichkeit, ihrer Wärme. Und von ihren Kraftreserven, die sie aufbieten musste unter den Schockwellen, die im Februar 2002 über sie kamen und auf die sie nicht vorbereitet war.

Stets galt Ingrid Betancourt, die verhinderte Präsidentschaftskandidatin, als der Star unter den Geiseln, der das größte Medieninteresse auf sich zog. Aber als Clara Rojas im Januar 2008 freigelassen wurde, richteten sich die Kameras schlagartig auf diese schmale, blasse Frau aus der zweiten Reihe, die in der Haft ein Kind bekommen hatte. Die bis heute darüber schweigt, wer der Vater ist.

Ihr Buch ist eine Art Flucht nach vorn. Sie möchte ihre Geschichte nicht anderen überlassen, sondern sie selbst erzählen, mit dem ihr eigenen Ernst.

"Ich hatte mich nur theoretisch mit den FARC beschäftigt", sagt Clara Rojas. "Ich wusste nicht viel darüber, wie sie operieren." Als jüngstes Kind und einziges Mädchen ist sie in einer gutbürgerlichen Familie in Bogotá aufgewachsen, als Liebling ihres Vaters. Sie absolvierte ein Jurastudium, wurde 2001 Mitgründerin von Betancourts Partido verde oxigeno. Sie war jung, das Leben war gut zu ihr gewesen.

Ihre Entführer katapultierten die behütete Tochter in eine Welt unvorstellbarer Primitivität und - fast ein bitterer Witz - die umweltbewegte Stadtpflanze in die Hölle des Dschungels. "Der Regenwald ist eine Welt im Schatten", schreibt sie. Die Sonne erreicht den Boden kaum. Das ständige Halbdunkel macht blass. Alles bleibt feucht und klebt. Am Tag drückt die Schwüle auf die Lungen. In der Nacht gegen drei Uhr fällt die Temperatur stark ab.

Clara Rojas wusste vieles nicht. Zum Beispiel, dass die Rebellen-Kommandos ständig den Ort wechseln, damit die Armee sie nicht lokalisieren kann: "Sie ziehen umher wie Nomaden." Gewaltmärsche sollten von nun an zu ihrem Alltag gehören.

Zu den Kommandoeinheiten gehören Männer, Frauen und Halbwüchsige. Gespräche mit den Geiseln waren unerwünscht. Es gab genug zu essen - Reis, Bananen, Rührei, manchmal Krokodilfleisch oder Wild. Aber keinen Arzt. Die mehr oder weniger provisorischen Schlafplätze wimmelten von Spinnen, Moskitos, Riesenameisen. Zum Waschen gab es ein paar Eimer Wasser oder einen schlammigen Fluss, die Toilette war ein Loch im Wald. Dorthin musste stets eine Bewacherin mitgehen.

Zwei Fluchtversuche von Rojas und Betancourt, schon nach wenigen Wochen, scheiterten. Die Strafe war hart: "Sie beschimpften uns als gerissene Miststücke", schreibt Rojas. "Sie legten uns jeweils eine Fußfessel an, die mit einem Vorhängeschloss an etwa einer drei Meter langen Kette befestigt war, die sie an einem Baum festmachten. Man nahm uns die Ketten nicht einmal in der Nacht ab ... Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich wie ein Tier behandelt. Es gibt einfach keine anderen Worte dafür."

Der Schock wirkte tief. Zwar beteten die beiden Frauen täglich zusammen. Mit einem Hungerstreik erreichten sie schließlich, dass man ihnen die Ketten abnahm. "Aber es war enorm schwer. Wir sind in ein Schweigen gefallen. Über die Wochen und Monate haben wir uns entfremdet", sagt Rojas. Die Entfremdung blieb auch, als sie mit rund 30 anderen Geiseln zusammengelegt wurden, darunter Zivilisten, Polizisten und Armeeangehörige.

Ein Geisel-Lager ist ein Raum ohne Intimität. Jeder schlägt die Zeit tot, ohne über sein Leben bestimmen zu können. In der Enge liegen die Nerven blank. Inzwischen erschienen in Kolumbien zahlreiche Geisel-Memoiren, "die mit dem Verhalten von Mitgefangenen härter ins Gericht gehen als mit denjenigen, die sie in diese Lage gebracht haben", schreibt die Tageszeitung "El Tiempo". Einige der Buchautoren greifen auch Ingrid Betancourt an: Sie habe sich Vorteile verschafft, Starallüren entwickelt.

"Natürlich gab es Zeiten großer Anspannung", sagt Clara Rojas. "Wir lebten zusammengepfercht auf engstem Raum, viele waren immer wieder krank. Die Wachen sagten uns, dass sie uns töten würden, falls die Armee angreift. Jeder Hubschrauberlärm hat uns in Angst versetzt. Wir wussten nicht, wo wir die nächste Nacht verbringen werden. Das verstärkt die Spannungen."

In dieser Atmosphäre stellte Clara Rojas im August 2003 fest, dass sie schwanger war. Betancourt, Mutter zweier Kinder, habe zu der Neuigkeit nur gesagt: "Willkommen im Klub." Der Lagerkommandant Martin Sombra, ein gefürchteter FARC-Befehlshaber, beschafft mitten im Regenwald innerhalb von Stunden einen Schwangerschaftstest. Eine bizarre Szene: Er gratuliert Clara Rojas, als der Test positiv ausfällt. Rät ihr onkelhaft, ihren Bauch mit Jaguaröl einzureiben. Auf ihre dringende Bitte, sie dem Roten Kreuz zu übergeben, reagiert er nicht.

Natürlich will Sombra "sehr dringlich" wissen, wer der Vater des Kindes ist. Auch ihre Mitgeiseln hätten sie "ins Verhör genommen" und sich "wie Hyänen verhalten", sagt Rojas. War es eine der Geiseln? Einer der Guerilleros? Wurde sie vergewaltigt? Intime, unbarmherzige Fragen. Welche Folgen eine Antwort ausgelöst hätte, war unabsehbar.

Clara Rojas verweigert sie bis heute kategorisch. "Diese Episode meines Lebens gehört zur Gänze in meine Privatsphäre", stellt sie klar. "Ich werde sie meinem Sohn erzählen, wenn er mich eines Tages danach fragt."

Es ist dieses Kind, das alles ändert. Das Clara Rojas' Geisel-Dasein plötzlich wieder einen Sinn, ein Ziel gibt. Es erscheint absurd: Eine Erstgeburt ohne ärztlichen Beistand? Ein Baby in einem verdreckten, voll gedrängten Lager? Ja, sagt Rojas, das alles habe sie geängstigt. Dennoch habe sie ihre Entscheidung getroffen, das Kind zu bekommen. Clara Rojas ist eine gläubige Katholikin, aber keine demütige. Die Erwartung gab ihr eine unbeugsame Kraft.

Die Geburt des kleinen Emmanuel am 16. April 2004 verlief problematisch. So unglaublich es klingt: In einer Hütte, mitten im Dschungel, holte ein FARC-Sanitäter das Kind beim Licht einer Petroleumfunzel mit einem Kaiserschnitt auf die Welt. Clara Rojas hatte immerhin eine Narkosespritze bekommen.

Der Gesundheitszustand von Mutter und Kind war anfangs schlecht. Rojas fieberte und war zu schwach, um ihren Sohn zu stillen. Erst nach Tagen trafen ein Antibiotikum und Milchpulver ein. Bei der Geburt war dem Baby ein Arm gebrochen worden, der nur langsam verheilte.

Dennoch waren es die Glücksmomente mit ihrem Kind, die Rojas trugen. Sie ahnte nicht, welche Belastung das Baby für die FARC war. Zum einen war die Nachricht von der Geburt durch eine geflohene Geisel in der Außenwelt bekannt geworden. Die Armee kündigte eine gewaltsame Befreiung an. Zweitens war die Gesundheit des Kindes im Lager akut gefährdet. Das bestätigte sich, als Emmanuel im Januar 2005 an Leishmaniose erkrankte, einer tropischen Parasiteninfektion.

Die FARC nutzte die Gelegenheit, das acht Monate alte Kind loszuwerden. Clara Rojas sagte man, es werde zu einem Arzt gebracht und komme in zwei Wochen wieder. Es wurde eine Trennung für drei Jahre.

Dieser Sturz aus der Hoffnung in tiefste Einsamkeit hätte Rojas fällen können. Sie wusste nicht, dass die Rebellen Emmanuel einem Bauern übergeben hatten, der das kranke Baby nach kurzer Zeit in ein staatliches Kinderheim brachte. "Ich wusste nicht, wo er war, wie es ihm ging, wann ich ihn wiedersehen würde", sagt sie. "Das war für mich am allerschwersten. Ich konnte das nur verkraften mit Gottes Hilfe." Einige Mitgeiseln versuchten sie zu trösten, andere gingen ihr kühl aus dem Weg. "Dieses Lager ist ein feindseliger Ort", schreibt sie.

Auch in dem Kinderheim wusste niemand, wie der kleine Junge hieß und wo seine Familie war. Erst am 31. Dezember 2007 erfuhren die Geiseln aus dem Radio, dass "ein kleiner Junge aufgetaucht" sei, der Rojas' Sohn sein könne, dass eine DNA-Probe von ihrer Mutter den Beweis erbringen solle. Sie hörten auch, dass die kolumbianische Senatorin Piedad Cordoba und Venezuelas Präsident Hugo Chávez sich als Vermittler zwischen Regierung und Rebellen um Rojas' Freilassung bemühten.

Die Vermittlung gelang. Am 10. Januar 2008 wurden Clara Rojas und ihre Mitgefangene Consuelo Gonzales von einem neutralen Rote-Kreuz-Hubschrauber abgeholt und in die Freiheit gebracht - zunächst über die Grenze nach Venezuela. Diesen Triumph wollte Hugo Chávez auf eigenem Territorium zelebrieren.

Clara Rojas schließt Emmanuel erst am nächsten Tag in Bogota wieder in die Arme. Er hat im Fernsehen verfolgt, wie sie aus dem Flugzeug stieg. "Er wusste also, wie ich mittlerweile aussah", sagt sie, und jetzt lächelt sie. "Deshalb hat er auch keine Fragen gestellt, er konnte sofort auf mich zukommen und mich umarmen."

Clara Rojas lebt heute mit ihrer Familie in Bogota. Sie ist nicht in die Politik zurückgekehrt, die Partido verde oxigeno hat sich aufgelöst. "Ich habe beim Schreiben des Buches gemerkt, dass mir das großen Spaß macht", sagt sie. "Vielleicht mache ich damit weiter." Sechs Jahre ihres Lebens haben ihr die FARC gestohlen. Davon drei unersetzliche Jahre mit ihrem Sohn. Was fühlt sie heute gegenüber ihren Entführern?

"Natürlich gibt es diesen Schmerz über das, was sie angerichtet haben", sagt sie. "Ich war mir bewusst, dass ich am Rande des Todes lebte, sie hätten mich töten können. Aber sie haben mich nicht getötet. Ich versuche, keine negativen Gedanken und Gefühle zu haben."

Aber ist da keine Wut? Sie antwortet wie eine Frau, die ihr Leben neu ordnet. "Es ist wichtig, dieses Kapitel meines Lebens in einem Buch zu haben und es ins Regal stellen zu können. So kann ich davon Abstand gewinnen und mich meiner Zukunft zuwenden. Das könnte ich mit negativen Gedanken nicht."

Clara Rojas' Memoiren sind unter dem Titel "Ich überlebte für meinen Sohn" erschienen (aus dem Französischen übersetzt von Stephan Gebauer). Blanvalet-Verlag, 288 Seiten, 16,95 Euro