Nach den Ausschreitungen in London wird jetzt auch in Birmingham, Bristol und Liverpool randaliert. Die Polizei nahm 525 Menschen fest.

London. Mit den Unruhen in Tottenham in der Nacht zum Sonntag fing alles an. Eine aufgebrachte Menschenmenge setzte mehrere Autos und Gebäude in Brand, Polizisten wurden verletzt, es kam zu zahlreichen Festnahmen. Maskierte Jugendliche gingen auf Raubzug. Mittlerweile hat sich die Randale nicht nur auf andere Stadtteile, sondern auch auf drei weitere Städte ausgeweitet. Neben London zogen auch in Liverpool, Bristol und Birmingham in der Nacht zum Dienstag Menschen auf die Straßen und hielten die Polizei mit ihrer Gewaltbereitschaft in Atem, warfen Molotow-Cocktails und zündeten Autos an.

Premier Cameron bricht seinen Urlaub ab

Zuvor hatte Premierminister David Cameron angekündigt, aufgrund der Eskalation seinen Sommerurlaub abzubrechen und nach London zurückzukehren. Dort will er am Morgen an der Sitzung eines Nationalen Krisenkomitees teilnehmen.

"Das ist der Aufstand der Arbeiterklasse. Wir verteilen den Wohlstand um“, sagte der 28-jährige Bryan Phillips, der sich selbst als Anarchist bezeichnet. Die Polizei gab bekannt, dass 334 Personen festgenommen wurden. Gegen 69 sei Anklage erhoben worden, hieß es weiter. Erst gegen Morgen schien sich die Lage nach Aussage der Polizei wieder zu beruhigen.

Festnahmen wegen versuchten Polizeimordes in London

In London nahm die Polizei drei Personen unter dem Verdacht auf versuchten Polizistenmord fest. Der Beamte war am frühen Dienstagmorgen in Brent im Norden der Hauptstadt angefahren worden und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Gemeinsam mit einem Kollegen – der leichte Verletzungen davon trug – hatte er nach der Plünderung eines nahe gelegenen Elektronikgeschäfts mehrere Fahrzeuge angehalten. Dabei sei ein Auto davon gefahren und habe den Beamten erfasst, teilte die Polizei mit. Das Fahrzeug sei später erneut gestoppt und drei Personen festgenommen worden.

Vizepremierminister Nick Clegg sagte in Tottenham, wo die Krawalle in der Nacht zum Sonntag begonnen hatten, die Randalierer seien "opportunistische Kriminelle“. Sie hätten schon jetzt "große Narben“ in der Gesellschaft hinterlassen.

Auch Kinder im Alter von zehn Jahren zu Gewalt bereit

Der amtierende Londoner Polizeichef Tim Godwin forderte die Bevölkerung auf, die Straßen zu verlassen. Eltern sollten sich nach ihren Kindern erkundigen und sie nach Hause holen. Auch Gruppen gewalttätiger Kinder zwischen zehn und 14 Jahren waren nach Medienberichten unterwegs. "Es sind viel zu viele Schaulustige auf den Straßen“, sagte er. Die Polizei hatte hunderte Beamte aus anderen Städten Großbritannien nach London beordert. Das größte Problem sei jedoch, die Einsatzkräfte schnell von einem Ort zum anderen zu befördern.

Ursache der Krawalle in Tottenham soll ein Vorfall gewesen sein, der sich zwei Tage zuvor ereignet hatte, als der 29-jährige Mark Duggan von einem Polizisten erschossen wurde. Unklar war, ob der farbige Familienvater, der der Banden- und Drogenszene zugerechnet wird, das Feuer eröffnet hatte. Ergebnisse ballistischer Tests sollten am Dienstag veröffentlicht werden. Der Mann hatte nach Darstellung der Polizei bei einer Kontrolle aus einem Taxi auf die Fahnder geschossen. Eine Kugel, die das Funkgerät eines Polizisten traf, stammte nach einer ersten Untersuchung aber offenbar aus einer Polizeiwaffe, berichteten mehrere britische Medien. Mitglieder der Farbigen-Community werfen der Polizei Rassismus vor.

Viele Familien wurden obdachlos

Randalierer aller Ethnien hatten daraufhin in Tottenham Büros, Wohnungen, Supermärkte, Polizeiautos und einen Doppeldecker-Bus in Brand gesetzt und Geschäfte ausgeplündert. Von einigen Häusern blieben nur die Grundmauern übrig. Familien wurden obdachlos, weil ihre Wohnungen ausbrannten. "Das hat absolut nichts mit dem Tod von Mark Duggan zu tun“, sagte Clegg. Die Gewalt sei "total unakzeptabel“. Der örtliche Abgeordnete David Lammy sagte, Tottenham sei "das Herz entrissen“ worden. Die Sachschäden an Gebäuden und öffentlichen Einrichtungen gehen in den mehrstelligen Millionenbereich.

Die Familie des getöteten Mannes distanzierte sich von der Gewalt. Das sei nicht im Sinne des 29-Jährigen, sagte dessen Bruder. Bei den Tätern handle es sich offenbar um "Trittbrettfahrer“, erklärte Scotland Yard. Die Beamten seien schockiert über das Ausmaß der Gewaltbereitschaft. London ist in einem Jahr (27. Juli bis 12. August 2012) Austragungsort der Olympischen Spiele. Die Sicherheit ist eines der meistdebattierten Themen im Vorfeld der Spiele.

Attacken werden über Soziale Netzwerke koordiniert

Viele der zumeist kleinen Gruppen von Jugendlichen nutzen SMS, Instant Messenger und Twitter, um ihre Angriffe zu koordinieren und sich einen Vorsprung vor der Polizei zu verschaffen. Diese wies auf mögliche Festnahmen hin, falls jemand Nachrichten in Sozialen Medien veröffentliche, die zur Gewalt aufriefen. Der Londoner Notdienst berichtete, dass er 16 Personen behandelt habe, von denen 15 ins Krankenhaus eingeliefert worden seien.

Urlauber können nicht kostenlos stornieren

Wer für die kommenden Tage eine Pauschalreise nach London gebucht hat, kann sie nicht wegen der derzeitigen Krawalle kostenlos stornieren. Die Reise werde nicht beeinträchtigt, da mit höchster Wahrscheinlichkeit keine gebuchten Leistungen ausfallen, sagte Prof. Ernst Führich dem dpa-Themendienst. Die meisten Besucher der Stadt sähen von den Ausschreitungen nichts, sagte der Reiserechtler: "Der typische Londontourist hält sich in Westminster auf, Tottenham kennt er nur als Fußballclub.“

Die wichtigen Touristengebiete in London seien nicht von Krawallen berührt, erklärte Chloe Couchman, Sprecherin von London & Partners. In allen großen Sehenswürdigkeiten wie Museen laufe der Betrieb normal. Auch der öffentliche Verkehr fließe zum größten Teil wie immer, nur der Bahnhof Brixton sei geschlossen. Couchman empfahl Reisenden, aufmerksam die Nachrichten zu verfolgen und beim Hotel telefonisch nachzufragen, ob die Lage in der Umgebung ruhig ist.

Fußballspiele sollen aus Sicherheitsgründen verschoben werden

Aufgrund der weiterhin schweren Ausschreitungen in London hat die Polizei die Fußballclubs in der Stadt aufgefordert, ihre Spiele zu verschieben. Grund sei der Bedarf der Polizeikräfte an anderer Stelle, berichtete der betroffene Verein West Ham, der am Dienstag gegen Aldershot spielen sollte. Auch der Fußballclub Charlton im Süden Londons teilte mit, sein Spiel gegen Reading sei aus "Sicherheitsgründen“ abgesagt worden. Auf der Kippe steht nun möglicherweise auch das Freundschaftsspiel der englischen Nationalmannschaft gegen die Niederlande. Die Begegnung sollte am Mittwoch im Wembley Stadion stattfinden.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) teilte mit, es habe Vertrauen in die britischen Behörden. London ist im nächsten Jahr Gastgeber der Spiele. "Sicherheit bei den Olympischen Spielen hat eine hohe Priorität für das IOC“, sagte Sprecher Mark Adams. (dpa/dapd)