Versäumnisse verhinderten eine frühere Festnahme Anders Behring Breiviks. Die Justiz prüft eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Oslo/Hamburg. Die Wahnsinnstat des Attentäters Anders Behring Breivik war nach bisherigen Erkenntnissen der norwegischen Polizei das Werk eines Einzelnen. Aber Breivik hatte dennoch Verbündete: Unglückliche Umstände, Missgeschicke und die Unfähigkeit der Sicherheitskräfte, die drohende Gefahr aufzudecken, haben es Breivik erst möglich gemacht, seinen Angriff so auszuführen, wie er es geplant hatte.

Die Polizei jedenfalls gab bei beiden Anschlägen ein schlechtes Bild ab. Am Freitag, um 15.26 Uhr, ging die Bombe im Osloer Regierungsviertel hoch. Erst um 18 Uhr bekam die Polizei einen Helikopter in die Luft. Der steht aber nicht in der Hauptstadt Oslo, sondern in Rygge, 70 Kilometer entfernt.

Zudem wusste die Polizei seit Jahren, dass etwa das Regierungsviertel für einen Anschlag anfällig war. Bereits 2006 wollte sie die Straße Grubbegata für den zivilen Kraftfahrzeugverkehr schließen, weil sie am Büro des Ministerpräsidenten vorbeiführt. Ein Zeuge hat ausgesagt, dass Breivik sein Auto etwa zwei Minuten vor der Detonation vor dem Sitz des Ministerpräsidenten parkte. Darin sollen sich etwa 500 Kilogramm Sprengstoff befunden haben.

Der Notfallplan, den die Polizei für einen Terroranschlag in Oslo hatte, berücksichtigt zudem nur Angriffe, die sich innerhalb der Stadt abspielen. Dass Breivik einen zweiten Angriff 30 Kilometer vom ersten Tatort auf einer Insel ausführte, war eine riesige Überraschung. "Als wir sahen, dass es einen neuen Angriff gab, hatten wir bereits Kontakt mit dem Militär aufgenommen. Als wir die Meldung von Utøya bekamen, baten wir um mehr Hilfe und bekamen unmittelbar und auch später Unterstützung", sagt der Stabschef der Osloer Polizei, Johan Fredriksen.

Der Polizist sagte weiter, dass der Hubschrauber ohnehin nicht dafür hätte verwendet werden können, die Rettungstruppen nach Utøya zu bringen. "Es lag weniger als eine Stunde zwischen der Mitteilung an die Rettungstruppen um 17.38 Uhr bis zum Abschluss der Aktion um 18.25 Uhr. Eine bessere Antwort als diese kann man nicht erwarten. Damit sind wir sehr zufrieden", sagt Stabschef Fredriksen.

An den Feiertagen hat das Militär nach Feierabend keinen Hubschrauber zur Verfügung. "An Hubschraubern hatten wir nur den Sea King auf Rygge", sagt der Sprecher des Verteidigungs-Chefs, Oberst Dag Amoth, zur Zeitung "VG". Das Militär wurde trotzdem benachrichtigt, nach der Explosion im Zentrum und nach dem Angriff auf Utøya. Der erste Helikopter kreiste über der Insel, als Anders Behring Breivik festgenommen wurde.

Aber auch die Aktion auf der Insel ging nicht ohne Probleme vonstatten. Eine Patrouille, die mit einem Motorboot ausgerückt war, hatte das Boot für die Rettungsmannschaft klargemacht, die mit dem Auto aus Oslo kommen sollte. "Als sie näher kamen, gingen sie gleich an Bord und begannen mit der Überfahrt auf die Insel. Auf dem Wasser versagte der Motor. Sie riefen zwei zivile Boote, die sie zur Insel brachten, wo sie an Land gingen", sagt Sissel Hammer. Das kostete sie zehn Minuten.

Polizeidirektor Øystein Mæland hat angekündigt, dass es eine vollständige Überprüfung geben werde, wie Polizei und Rettungskräfte die Krise gehandhabt hätten. "Es ist offensichtlich, dass Polizei und Rettungszentren betroffen sind. Es wird eine Überprüfung geben, wie alle gehandelt haben. Derzeit sehe ich keine speziellen Verhältnisse, die kritikwürdig sind", sagte Øystein Mæland.

Die Chefin der Sicherheitspolizei, Janne Kristiansen, sagte, der Attentäter habe sehr darauf geachtet, nicht unter Beobachtung der Polizei zu kommen. Breivik tauchte zum ersten Mal auf ihrem Radar auf, als er auf einer Liste von Norwegern stand, die bei einem polnischen Händler eingekauft hatten, der Chemikalien vertreibt. Allerdings soll er dort auch nur für umgerechnet 15,50 Euro eingekauft haben. Auch seine Äußerungen im Internet seien niemals gewaltverherrlichend oder hetzerisch gewesen. Seine Waffen seien registriert gewesen, da er früher in einem Schützenverein Mitglied war. "Ich glaube, dass nicht mal die deutsche Stasi ihn entdeckt hätte", sagte Janne Kristiansen.

Als das Einsatzkommando der Polizei, das sogenannte Delta-Team, schließlich auf Utøya eintraf, riefen ihm die Polizisten zu: "Gib auf oder wir schießen!" Aus Polizeikreisen heißt es, dass Breivik zunächst versucht habe, vor den schwer bewaffneten Kommandokräften wegzulaufen. Aber nach wenigen Metern blieb er stehen, drehte sich um und ging mit erhobenen Händen auf die Polizisten zu.

In den Tagen darauf bargen Kriminaltechniker und Rechtsmediziner die Leichen der Kinder und Jugendlichen. Ihre Namen wurden gestern Abend veröffentlicht. Eine aus Pathologen, Zahnärzten und Spurenermittlern bestehende Gruppe identifiziert die Opfer. Bislang sind erst 20 Leichen obduziert und identifiziert.

Nun kommen auch in Norwegen Forderungen auf, die Gesetze zu verschärfen und mit Straftätern härter umzugehen. Schon beim Rosenumzug legte jemand ein Plakat aus, auf dem es hieß, dass Breivik "nicht nur 21 Jahre eingesperrt werden soll, sondern länger". Bis vor Kurzem war eine Gefängnisstrafe in Norwegen auf 21 Jahre limitiert. Seit 2008 gibt es jedoch im Strafgesetzbuch den Paragrafen 102: Unter der Überschrift "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" werden dort auch "umfassende und systematische Angriffe auf eine Zivilbevölkerung" durch Täter genannt, die eine Gruppe auf einer politischen Grundlage angreifen. Die mögliche Höchststrafe beträgt 30 Jahre. Laut Zeitung "Aftenposten" prüft jetzt Polizeiankläger Christian Hatlo die Anwendung dieses Paragrafen.

Der geständige Täter sprach nach Angaben seines Anwalts von etlichen weiteren Zellen in seiner Bewegung. Es soll laut Breivik zwei Zellen in Norwegen und noch etliche weitere im westlichen Ausland geben. Ein Polizeisprecher sagte gestern auf einer Pressekonferenz, man müsse jetzt allen Spuren nachgehen.

Die Ermittler glauben aber nicht daran, dass es weitere Beteiligte gab. Sicherheitsbehörden in verschiedenen Ländern prüfen dennoch weiter, ob eventuelle Verbindungen zu der Tat in Norwegen bestehen. So geht die britische Polizei Berichten nach, dass Breivik Verbindungen zu rechtsextremen britischen Gruppen hatte. Mehrere Londoner Zeitungen nannten gestern Details, denen zufolge Breivik im vergangenen Jahr unter anderem eine Demonstration der ultrarechten English Defence League (EDL) besuchte und mit Mitgliedern der Gruppe über das Internet in Kontakt war.