Es gibt viel Öl und wenig Arbeitslose, der Preis für Frieden wird hier vergeben. Nun wird Norwegen ein anderes sein.

Hamburg/Oslo. Es bläst kaum Wind, das Wasser schlägt nur kleine Wellen hier im weiten Tyrifjord, 40 Kilometer entfernt von Norwegens Hauptstadt Oslo. In der See treiben ein paar rote Rosen. Dort, wo Rettungskräfte mit Schlauchbooten noch nach Leichen im Wasser suchen. Am Ufer liegen Blumensträuße, Kerzen brennen. Dort, wo der 32 Jahre alte blonde Mann am Freitag kurz vor 17 Uhr mit einem Boot ablegte, um ein Blutbad anzurichten. Norwegen erlebte seinen 11. September am 22. Juli 2011. Das Land hat nun einen "Ground Zero", wie es New York hat seit dem Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001.

Norwegens Ort des Schreckens ist die kleine Insel Utøya.

Gerade einmal 500 Meter ist sie lang, dicht bewachsen mit Bäumen, ein paar Wiesen und Häuser gibt es dort. Doch Utøya war mehr als ein unschuldiges Idyll. Sie stand für das Selbstverständnis eines Landes, für eine politische Kultur des "Wir" und des Engagements. Sie war Wahrzeichen für Norwegens Sozialdemokratie. Jeden Sommer kamen Hunderte junge Menschen zum Ferienlager der Jugendorganisation AUF auf die Insel. Utøya steht jetzt auch für eine Tragödie.

Wer in die Gesichter der Menschen am Sonntag beim Trauergottesdienst im Osloer Dom blickt, sieht Fassungslosigkeit. Oder Tränen. Menschen liegen sich in den Armen und weinen hemmungslos. Der norwegische König Harald V. und Königin Sonja sind gekommen. Als Ministerpräsident Jens Stoltenberg die vielen Toten der Anschläge ehrt, erzählt er auch von Monica. Er habe sie gut gekannt, Monica sei im Ferienlager auf Utøya 20 Jahre hintereinander im Einsatz für junge Menschen gewesen. "Für viele von uns war sie Utøya. Jetzt ist sie tot. Erschossen und getötet, während sie Fürsorge und Unbesorgtheit für Jugendliche aus dem ganzen Land schaffte." Das sind Stoltenbergs Worte für das Unfassbare.

Seine Stimme zittert, als er dann an den jungen Sozialdemokraten Tore Eikeland denkt: "Er war einer unserer hoffnungsvollsten Nachwuchspolitiker. Jetzt ist er tot. Weg für immer. Es ist nicht zu begreifen."

Draußen vor dem Dom drängen sich Zuschauer, die einen Platz zum Trauern suchen, Blumen vor der Kirche ablegen oder die geballte Prominenz beobachten wollen. Kein Laut ist zu hören, selbst die Leute vor der Kirche wirken wie Gäste einer Trauerfeier, auch wenn sie Shorts und Turnschuhe tragen. Das Begreifen der Katastrophe ist auch hier noch in weiter Ferne.

Auch Norwegen ist verletzlich, das merken die Menschen in Oslo nun. Die Verletzlichkeit hinterlässt Spuren auf den Straßen: Uniformen, Gewehre, Leibwächter. Bewaffnete Soldaten patrouillieren an den Tagen nach dem Attentat am Schloss, vor dem Außenministerium und dem Parlament in Oslo.

Man muss erst noch lernen, dass es diese Bilder nun auch in Norwegen gibt.

Knapp fünf Millionen Menschen leben in Norwegen. Ein kleines Land. Und ein reiches Land. Dank Öl und Gas hat Norwegen keine Schulden, die Unternehmen suchen dringend Arbeitskräfte, die Löhne steigen schneller als die Preise. Seit den Wikingern hat das Land keinen Krieg mehr geführt. Der Humanist Fridtjof Nansen rettete nach dem Ersten Weltkrieg mit einer großen Hilfsaktion in der Sowjetunion Millionen Menschen vor dem Hungertod. Der Schwede Alfred Nobel bestimmte in seinem Testament nicht seine Nation, sondern die Norweger für gebührend, seinen Friedensnobelpreis zu vergeben. Es sind diese Personen, die sich in das historische Selbstverständnis Norwegens eingeschrieben haben. Wenn das Land ein Mensch wäre, hätte er viel Geld und wenig Sorgen. Er wäre friedfertig, hätte es sich mit seiner Familie wohlig eingerichtet in seinem Haus.

Doch die Wände dieses Hauses haben Risse bekommen in den vergangenen Jahren. Zweimal, 1972 und 1994, stimmten die Norweger gegen einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Ein Volk will unter sich bleiben. Die rechtspopulistische Fortschrittspartei wuchs zur stärksten Konkurrentin von Stoltenbergs Sozialdemokraten heran. Sie wettern gegen hohe Steuern, Wohlstandsverlust - und Ausländer. Bei der Wahl im September 2009 wurde sie erneut zweitstärkste Kraft im Parlament. Die Parolen kommen offenbar bei vielen Menschen in Norwegen an. Auch bei Attentäter Anders Behring Breivik. Er war Mitglied der Fortschrittspartei.

Und doch: Meldungen über Angriffe auf Ausländer oder ausländisch aussehende Menschen gab es lange Zeit kaum bis gar nicht. Bis heute geht man von einer relativ kleinen Zahl Rechtsradikaler aus. Als deutlich aktiver und brutaler galt bisher die Szene im Nachbarland Schweden. Und nicht nur die Populisten erlebten einen Aufstieg, auch Norwegens Sozialdemokratie. Auch dank Jens Stoltenberg, Sohn einer Staatssekretärin und des Gewerkschafters und späteren Außenministers Thorvald Stoltenberg. Der Sohn wurde schon mit 34 Jahren Minister für Handel und Energie. Zwar fuhr er bei der Wahl zum Ministerpräsidenten 2001 mit gut 24 Prozent das schlechteste Ergebnis der Arbeiterpartei seit 1924 ein, doch bei seiner Wiederwahl 2009 waren es schon 35 Prozent. Stoltenberg steht für Stabilität, vor allem damit erklärt sich seine Popularität. Die Norweger nennen ihn nur "Jens".

Ihr Jens muss nun eine Politik finden für ein Norwegen nach dem Attentat auf das Regierungsviertel und der Bluttat auf Utøya. Im Dom von Oslo verspricht Stoltenberg, dass Norwegen gut bleibt. "Wir sind ein kleines Land, aber ein stolzes", sagt er. Mitten in der ganzen Tragik sei er stolz darauf, in einem Land zu wohnen, das in einer kritischen Zeit aufrecht stehen bleibt. Er sei beeindruckt von so viel Würde, Trauer und Festigkeit. "Unsere Antwort", sagt Stoltenberg dann, "ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität. Aber niemals mehr Naivität."