Frankreich will die Führung der Operation “Odyssey Dawn“ von den USA übernehmen, die Türkei blockiert eine Einigung in Brüssel

Hamburg. Das militärische Vorpreschen Frankreichs in der Libyen-Krise hat zu einem offenen Streit und zu einem organisatorischen Chaos in der Nato geführt. Innerhalb der ebenfalls in dieser Sache zerstrittenen Europäischen Union mehrten sich gestern die Forderungen, das Kommando der Militäroperation "Odyssey Dawn" nun an die Nordatlantische Allianz zu übertragen. "Wir müssen von einer Koalition der Willigen zu einem koordinierten Ansatz unter Leitung der Nato kommen", sagte Italiens Außenminister Franco Frattini in Brüssel. Dort hatten sich die Vertreter der 28 Mitgliedstaaten am Vortag nicht über die Führungsrolle im Libyen-Einsatz einigen können. Auch gestern gingen die Beratungen der Nato-Botschafter weiter.

Bislang hatten Frankreich, Großbritannien und die USA die Angriffe gegen Stellungen der Armee von Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi allein geführt. Einige weitere Staaten wollen sich ebenfalls beteiligen. Doch die USA wollen ihre Führung bei der Operation - die sie zwangsläufig aufgrund ihrer überlegenen militärischen Kapazitäten übernommen hatten - so schnell wie möglich abgeben. Und Frankreich will übernehmen. Die Regierung von Staatspräsident Nicolas Sarkozy ist strikt gegen eine Beteiligung der Nato - denn dies würde wiederum auf eine amerikanische Führungsrolle hinauslaufen. Sarkozy, dessen Beliebtheit in Frankreich stark gesunken ist, benötigt einen außenpolitischen Erfolg. Zudem will er mit einem radikalen Schwenk in der Libyen-Politik vergessen machen, dass er Gaddafi lange hofiert hat.

Die Türkei wiederum blockiert aus Ärger über das französische Vorgehen jegliche Einigung in der Nato. Ankara fühlt sich düpiert, weil Sarkozy die Türkei nicht am Sonnabend zum Libyen-Krisengipfel eingeladen hatte.

Zudem ist die Türkei strikt gegen das Militärengagement in Libyen, weil sie um ihr Ansehen in der arabischen Welt fürchtet. Die Arabische Liga hatte die Einrichtung einer Flugverbotszone gefordert, kritisiert aber nun die Luftangriffe in Libyen scharf. Diese chaotische Lage in der Nato ist nach Ansicht des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn nicht länger hinnehmbar. Das "Spiel" sei "schädlich", sagte Asselborn.

Auch in den USA ist eine lebhafte Debatte um den Kurs in Libyen in Gang gekommen. Das US-Nachrichtenmagazin "Time" berichtete, US-Präsident Barack Obama und einige seiner Berater hätten die Gewalttaten Gaddafis gegenüber der libyschen Zivilbevölkerung bewusst übertrieben. "Dies unbedingt als drohenden Völkermord erscheinen zu lassen ist an den Haaren herbeigezogen", räumte ein führender Vertreter der US-Regierung ein. Das sei gefährlich. Hintergrund ist, dass militärische Interventionen der USA aus angeblich humanitären Gründen seit dem Einmarsch der US-Truppen in den Irak auf Befehl des damaligen Präsidenten George W. Bush einen miserablen Ruf haben. Obama will diese Handlungsmöglichkeit für Amerika wiederherstellen - trotz der damit verbundenen Risiken. Der Präsident sorgte in den USA für Unmut, weil er in aller Ruhe mit seiner Familie in Brasilien einen Staatsbesuch absolvierte, mit Straßenkindern in Rio Fußball spielte und den legendären Strand Copacabana besuchte - aber kein Wort über Amerikas Militäreinsatz in Libyen verlor.

Wie das US-Magazin aus dem inneren Führungskreis in Washington berichtete, hatte sich US-Verteidigungsminister Robert Gates vehement dagegen ausgesprochen, dass die USA eine Flugverbotszone über Libyen erzwingen sollten. Er habe gesagt, es handle sich um eine komplizierte und riskante Militäroperation. Gates sei aber überstimmt worden. Gegenüber dem Sender CNN warnte der Pentagon-Chef nun davor, die Militäraktionen in Libyen zu überziehen, indem man etwa direkt Jagd auf Gaddafi mache. Falls das Mandat der Uno überzogen werde, könne dies die ohnehin "vielschichtige Koalition" gegen den Diktator zerreißen.

Vizeadmiral William E. Gortney, Direktor des US-Generalstabs, betonte: "Wir sind nicht hinter Gaddafi her." Auch der ihm übergeordnete Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, Admiral Mike Mullen, hat erklärt, ein Regimewechsel in Libyen sei nicht das Motiv des Militäreinsatzes. "Ganz sicher sind die Ziele dieser Operation zurzeit begrenzt - und es geht nicht darum, ihn zu entfernen", sagte Mullen.

Dennoch fragte der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im US-Repräsentantenhaus, Howard P. McKeon: "Streben wir danach, Zivilisten in Libyen zu beschützen - oder Muammar al-Gaddafi von der Macht zu entfernen?" Stephen J. Hadley, Nationaler Sicherheitsberater unter George W. Bush und Architekt der Irak-Invasion, sagte: "Ich begreife nicht ganz, was hinter der Strategie in Libyen steckt. Wir haben jetzt eine Situation, in der die Erklärung des Präsidenten über das, was wir als Nation tun wollen, nicht mit dem zusammenpasst, was der Sicherheitsrat erlaubt und was wir bereit sind, zur Verfügung zu stellen." Obama wolle, dass Gaddafi geht, aber die Uno-Resolution sage etwas anderes.

Die Bundesregierung, die sich bei dem Votum im Sicherheitsrat über Militäraktionen in Libyen enthalten hatte und auch keine deutschen Truppen zur Verfügung stellen will, bemüht sich indessen, den Ärger einiger Verbündeter über diese Haltung zu entschärfen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte in Berlin an, dass die Regierung vermutlich schon heute eine Ausweitung des deutschen Afghanistan-Einsatzes beschließen wird. Dann dürfen Bundeswehrsoldaten auch in Awacs-Überwachungsflugzeugen über Afghanistan Dienst tun - und die dadurch frei gewordenen Nato-Soldaten anderer Staaten können über Libyen eingesetzt werden.