Der Schock von Smolensk besänftigt die politischen Rivalen. Bronislaw Komorowski gilt als Favorit auf die Nachfolge Lech Kaczynskis.

Warschau. Polen steht immer noch unter Schock. Am Sonntag hatte man vor allem des Präsidenten gedacht. Gestern aber begann, was man sonst den Alltag genannt hätte. Die Teppiche aus Blumen und Grablichtern vor dem Präsidentenpalast hatten helfende Hände inzwischen zu großen Rabatten angeordnet. Der schönste Straßenzug der Hauptstadt, der "Königsweg", an der Frédéric Chopin mit der Postkutsche seine Reise ins Exil begonnen hatte, leerte sich für kurze Zeit. Der Königsweg hatte die Heimkehr eines Präsidenten gesehen, der jetzt, im Augenblick seines Todes, tatsächlich zum Oberhaupt aller Polen geworden war.

Der Tag stand ganz im Zeichen der Erinnerung an die 95 weiteren Opfer. Die Leiche der Maria Kaczynska, der beliebten, fröhlichen Ehefrau des Präsidenten, wurde identifiziert.

Inzwischen haben die Davongekommenen ihre Sprache wiedergefunden. Jan Oldakowski etwa, Direktor des Museums des Warschauer Aufstands. Er war einer der engsten Vertrauten des Präsidenten und zunächst auf der Gästeliste für die Zeremonie von Katyn. Doch einige Tage vor der Reise fragte man ihn, ob er nicht zugunsten der Angehörigen der Opfer des Massakers von 1940 seinen Platz frei machen könne. "Ich dachte, die Familien der Opfer hätten es verdient, und ich bin bereits vor drei Jahren in Katyn gewesen", erzählt er. "Dann habe ich eigenmächtig die Namen meiner Kollegen Lena Dabkowska-Cichocka und Dariusz Gawin von der Passagierliste gestrichen.

Nachher habe ich sie angerufen und um Entschuldigung gebeten." Wer gestrichen wurde, hat überlebt. Auch Polens Oberrabbiner Michael Schudrich sollte mit nach Katyn. Schon am Mittwoch war er dort gewesen, hatte Kaddisch gebetet, zusammen mit den Regierungschefs Wladimir Putin und Donald Tusk - und ohne Präsident Lech Kaczynski, dessen Rivalität mit Tusk und dessen kritisches Verhältnis zu Putin dazu beigetragen haben, dass es zu zwei separaten Trauerfeiern kommen musste. Da die zweite Reise auf einen Sabbat fiel, verzichtete der Rabbiner.

Grzegorz Dolniak ist es anders ergangen. Der Politiker aus dem oberschlesischen Bedzin war, wie 18 Abgeordnete und Senatoren verschiedener Parteien, mitgereist. Warum? Einem Kollegen hatte Dolniak vor der Reise geantwortet: "Wenn der Präsident einlädt, sagt man niemals Nein." Auch Anna Walentynowicz war unter den Opfern, die Kranführerin aus der Danziger Lenin-Werft. Ihre Entlassung hatte 1980 zur Gründung der Freiheitsbewegung Solidarnosc geführt, und ihr galt der Spielfilm "Strajk", den Volker Schlöndorff vor zwei Jahren gedreht hatte.

Mit bewundernswerter Konzentration, vielleicht sogar Gelassenheit bewältigt Bronislaw Komorowski seine Aufgabe. Der Parlamentspräsident hat auch die Vollmachten des Präsidenten übernommen hat. Erste Entscheidungen erforderten Takt und Fingerspitzengefühl. Denn die von Jaroslaw Kaczynski geführte Partei "Recht und Gerechtigkeit" hatte fast ihre gesamte Führungsriege verloren.

So legte Komorowski Wert auf die Feststellung, eben einen General zum Nationalen Sicherheitsberater zu ernennen, der der Opposition nahesteht, den streitbaren Stanislaw Koziej. Mit der Leitung der Präsidialkanzlei wurde ein unpolitischer Beamter, Jacek Michalowski, betraut.

Einer der nächsten Schritte wird auch sein, die Präsidentenwahl vom Herbst vorzuverlegen, spätestens auf den 20. Juni. Auch dies eine delikate Sache: Komorowski selbst gilt, seit ihn die Regierungspartei in einer Urwahl zu ihrem Kandidaten bestimmt hat, als der klare Favorit - insbesondere da Lech Kaczynski nicht mehr lebt. Ob der nach dem Tod seines Zwillingsbruders angeschlagene Jaroslaw Kaczynski gegen Komorowski antreten wird, ist mehr als fraglich.

"Möge dieser Tod uns versöhnen", titelte die größte polnische Qualitätszeitung "Gazeta Wyborcza" ihren Leitkommentar. Der Moment der Erschütterung hat Polen nicht in Panik versetzt, sondern geeint.

Das Fernsehen bringt quasi ein Schwarz-Weiß-Programm, weil die Studios, die Kleidung der Moderatoren, selbst die Logos der Sender auf Schwarz-Weiß umgestellt sind.

Wenn gesprochen wird: keine Schuldzuweisungen, allenfalls selbstkritische Anfragen: Sollten wir in Polen nicht unsere Streitkultur verbessern? Waren wir nicht oft allzu hitzköpfig, verblendet, aufs Eigeninteresse fixiert? Das Land gedenkt und denkt nach. Noch mindestens für den Rest dieser Woche ist Ausnahmezustand in Polen.