Die Polen kennen seit der Tragödie von Smolensk keine Unterschiede mehr, der Schock versöhnt das Land. Gemeinsam erweisen sie den 97 Verunglückten die letzte Ehre. Von Gerhard Gnauck

Die Auferstehungskirche an der Pulawska-Straße in Warschau. Eine der zahllosen Kirchen in Polen, in denen gestern getrauert wurde. Hier sollte Gemeindepfarrer Adam Pilch gestern wie üblich den Gottesdienst halten. Doch diesmal ist etwas anders als sonst. Der beliebte Gemeindepfarrer fehlt. Dennoch ist die Kirche hoffnungslos überfüllt. Ein Trompeter bläst die Abschiedsmelodie.

Der 44 Jahre alte Pfarrer Pilch war an Bord des Flugzeugs mit dem polnischen Staatspräsidenten, das am Sonnabend in Russland verunglückte. Seine Kirche war vor dem Ersten Weltkrieg die orthodoxe Garnisonskirche von Warschau. Seitdem ist sie evangelisch. Doch das macht im überwiegend katholischen Polen heute keinen Unterschied. Der Tod hat sie alle hinweggenommen: den katholischen Militärbischof, den orthodoxen Militärkaplan und den evangelischen, eben Pastor Pilch. In seiner Kirche hängen Marmortafeln mit den Namen polnischer Protestanten, manche von ihnen deutscher Abstammung, die im Zweiten Weltkrieg für Polen gekämpft haben. Ein General Rommel ist darunter, ein General Thommée, der Militärseelsorger Messerschmidt. In der zweiten Reihe sitzt heute Jerzy Buzek, der polnische Präsident des Europaparlaments. Ebenfalls evangelisch und ein Bekannter des Verunglückten.

Ein Bischof predigt, doch er findet die Worte nicht. Seit Sonnabend immer wieder dasselbe Bild. Selbst Geistliche, selbst Fernsehjournalisten wissen nicht, was sie zu diesem unglaublichen Unglück sagen sollen.

Einige Stunden zuvor, am späten Sonnabendabend, auf dem zentral gelegenen Pilsudski-Platz. Eine Lichterkette zieht sich vom Grabmal des Unbekannten Soldaten quer über den Platz zu dem großen Kreuz, das an den ersten Besuch Papst Johannes Pauls II. auf diesem Platz erinnert, an das Jahr 1979, das erste Erlebnis der Freiheit im Kommunismus. Tausende, vor allem junge Menschen ziehen über den Platz. Wenn die Staatsgewalt abwesend ist, übernehmen in Polen die Pfadfinder das Regiment. Vor 1989 waren sie eine der wenigen Inseln selbst verwalteter Freiheit im Land. Im Dunkeln, mitten auf dem Platz, haben sie sich jetzt mit ihren Fahnen postiert und regeln den Verkehr der Menschenströme.

Plötzlich kommt von der Straße her ein Ehepaar auf den Platz. Es sind der Mann, der bisher Sejm-Marschall (Parlamentspräsident) war, und seine Frau. Seit wenigen Stunden, so bestimmt es die Verfassung, erfüllt dieser Mann die Pflichten des Staatsoberhaupts, die um einiges umfassender sind als die des deutschen Bundespräsidenten. Im kommenden Herbst sollte das Volk einen neuen Präsidenten wählen; der verunglückte Lech Kaczynski wäre wahrscheinlich wieder angetreten, doch der Mann, der hier auf den Platz kommt, hätte die Wahl vermutlich gegen ihn gewonnen: Bronislaw Komorowski. Jetzt zwingt ihn die schreckliche Katastrophe vorzeitig in dieses Amt, das laut Verfassung in der Außenpolitik mit dem Regierungschef "zusammenwirkt". Die Wahl muss vorgezogen werden, spätestens am 20. Juni wird sie jetzt stattfinden.

Komorowski verharrt im Gebet. Neben ihm seine Frau Anna, eine in sich ruhende, kräftige Person. Ihre Gestalt, souverän und gelassen, scheint zu verkünden: Ich habe fünf Kinder großgezogen. Kennengelernt haben sich Bronislaw und Anna bei den Pfadfindern; sie waren in der Zeit der Diktatur eine ehrbare, widerständige Familie. Komorowski spürt, dass er jetzt reden muss, und so improvisiert er ohne Mikrofon ein paar Sätze. Er ermuntert die jungen Menschen um sich herum, diesen krisenhaften Augenblick "tief zu erleben". Dann kommt er auf das, "was einen in schwierigen Augenblicken am ehesten rettet, das Gefühl der Gemeinschaft. Pfadfinder wissen am besten, wie wichtig Brüderlichkeit und Gemeinschaft sind. Auch ich fühle mich als Mitglied dieser Gemeinschaft, die da heißt: Volk, Gesellschaft, Warschau und auch Pfadfindertum." Dann ist er auch schon am Ende. Er beschließt seine Worte mit dem Pfadfindergruß: "Ich danke euch. In dieser schwierigen Lage: Seid bereit!" Er verschwindet in der Dunkelheit, und die Pfadfinder stimmen ein Lied an.

Was für ein trauriges Frühlingswochenende. Jerzy Bahr war es, Polens erfahrener Botschafter in Moskau, der am Sonnabend am Flugplatz im westrussischen Smolensk durch den Wald irrte und schließlich vor den rauchenden Trümmern der Tupolew stand. Als er die Nachricht telefonisch Außenminister Sikorski nach Warschau durchgegeben hatte, informierte dieser die Regierung. Sikorski: "Der Premierminister hat geweint." Seitdem vergingen nicht viel mehr als 48 Stunden, und Russlands Premier Putin verabschiedete gemeinsam mit Botschafter Bahr in Smolensk den Sarg des polnischen Präsidenten. Wenig später wurde er in Warschau durch die Stadt zum Präsidentenpalast gefahren, vor dem rund um die Uhr eine riesige Menschentraube ausharrte.

Gestern wurde in den polnischen Medien auch intensiv über die Unfallursache und seinen Hergang diskutiert. Differenzen über die Untersuchung zwischen russischen und polnischen Behörden waren zunächst nicht festzustellen. Nachdem Tusk und Putin sich am Wochenende am Unglücksort getroffen hatten, reisten polnische Militärstaatsanwälte nach Smolensk, um mit ihren russischen Kollegen die Arbeit aufzunehmen. Polens Regierungssprecher Pawel Gras sagte, die russischen Fachleute hätten mit der Öffnung der Flugschreiber der abgestürzten Maschine bis zum Eintreffen ihrer polnischen Kollegen gewartet.

Doch bis die Untersuchungskommission Ergebnisse vorlegen wird, kursieren Hypothesen. Die Tatsache, dass die Delegation mit dem Präsidenten und Dutzenden von hohen Militärs, Politikern, Spitzenbeamten und Geistlichen zu einer Gedenkfeier nach Katyn wollte, an den Ort des sowjetischen Massakers an Tausenden polnischer Gefangener im April 1940, gibt der Spekulation breiten Raum. Stadtgespräch in Warschau war gestern vor allem die Frage: Konnte der sehr erfahrene Pilot sich widersetzen, wenn der Luftwaffenchef und der Staatspräsident ihm nahelegten, er müsse wegen einer Zeremonie von nationaler Bedeutung unbedingt landen, trotz dichten Nebels? Gab es also Druck auf den Piloten, würde der Flugschreiber Aufschluss geben?

Ein polnischer Dichter, der nicht genannt werden will, verrät im Gespräch seine ersten Gedanken nach dem Unglück: "Die halbe Staatsführung steigt gemeinsam in ein Flugzeug und fliegt in den Nebel. Das ist schrecklich, grotesk und urpolnisch. Sie fliegen in den Nebel, um in Katyn zu fallen und das polnische Schicksal zu erfüllen. Kein Schriftsteller hätte sich das besser ausdenken können."

Vielleicht wird das Erinnern an das erste Katyn jetzt tatsächlich zu einem befreienden, antistalinistischen Schock auch in Russland. Der Spielfilm des bekannten Regisseurs Andrzej Wajdas über das Massaker, so wurde kurzfristig entschieden, wurde gestern Abend zur besten Sendezeit vom Staatssender "Rossija" ausgestrahlt.