Doch die jungen EU-Neubürger glauben trotz der schlechten Wirtschaftsdaten an einen Aufschwung.

Tallin/Sofia - Der Künstler malt riesige, sinnlich geschwungene Lippen in Lindgrün. Es ist der Mund der Bettina von Arnim auf dem alten Fünf-Mark-Schein, den Siim Annus in hundertfacher Vergrößerung auf die Leinwand bannt. An der Stirnwand seines Ateliers am Rande von Tallin stehen auch Bilder antiker Rubel mit Lenin-Kopf. "Menschen identifizieren sich mit ihrem Geld, das ist eine starke emotionale Bindung", sagt Annus. "Unsere estnische Krone ist ein Zeichen der Unabhängigkeit. Dass wir es ganz allein geschafft haben. Und jetzt soll plötzlich der Euro die Rettung sein - das macht den Esten Angst."

Draußen trotzen Schneeglöckchen dem kalten April-Tag. Der Frost liegt auf Estland so hartnäckig wie die Krise. Der Absturz ist dramatisch: Wuchs die Wirtschaft 2007 noch um 6,3 Prozent, wird sie in diesem Jahr laut Prognosen um 3,5 Prozent schrumpfen. Beim Nachbarn Lettland sieht es noch schlimmer aus, von plus 10,3 im selben Zeitraum auf minus fünf Prozent. Herrschte vor zwei Jahren fast Vollbeschäftigung, ist die Arbeitslosenquote auf zwölf Prozent hochgeschnellt. Zum fünften Jahrestag der Ost-Erweiterung am 1. Mai scheint wenig von der damaligen Euphorie geblieben. Die Dynamik, mit der mehr als 100 Millionen Neueuropäer die Zeitenwende angingen, ist Erschöpfung und Angst vor einem neuen Einschnitt gewichen. Die Zahlen sind erschreckend, im ganzen Osten Europas, besonders im Baltikum, in Ungarn, der Ukraine. Ab und an gibt es Lichtblicke, zum Beispiel in Bulgarien. Noch zumindest.

Ministerpräsident Sergei Stanichew will glauben machen, dass man ungeschoren davonkomme - schließlich sind in fast zwei Monaten Parlamentswahlen. Die Regierung weist auf die stabile Landeswährung Leva hin und das seit fünf Jahren anhaltende Haushaltsplus. Ivan Alexiev schüttelt nur den Kopf. "Unsere Regierung ist wirklich witzig. Leben die auf einem anderen Planeten?" Biomet, Alexievs 1991 gegründete Firma, ist Bulgariens zweitgrößtes Logistikunternehmen. Seit dem Herbst sind die Geschäfte um 20 Prozent eingebrochen. 30 seiner 600 Mitarbeiter musste Alexiev bereits entlassen, ein weiteres Drittel ist beurlaubt: "Ich hoffe, wir haben endlich die Talsohle erreicht." Tiefe Ringe liegen unter seinen Augen. Während Alexiev resigniert auf die weiße Tischplatte starrt, rollt aus der Tiefgarage des Biomet-Büroblocks am Stadtrand von Sofia ein Rolls-Royce.

Er stammt offenbar noch aus den fetten Jahren Bulgariens. Es ging nur bergauf, wie überall in den neuen EU-Mitgliedstaaten. Die Wachstumszahlen wirkten wie eine Droge, alle wollten daran teilhaben - und großzügige Kreditvergabe ausländischer Banken trieb die Spirale noch schneller an. Die private Verschuldung stieg in gigantische Höhen. Gleichzeitig verpassten es viele Regierungen, für eine substanzielle Erneuerung ihrer Wirtschaft zu sorgen. So liegt in Bulgarien die Leistungsbilanz, die die wahre Kraft einer Volkswirtschaft widerspiegelt, bei minus 15 Prozent. Der Boom im Osten, alles Illusion?

Nicht für Mihail Chobatov. Vielleicht liegt es daran, dass er sein Geld vor zehn Jahren noch mit Erdbeerpflücken auf englischen Feldern verdient hat. "Hier ist der amerikanische Traum wahr geworden", sagt er lachend und springt in seine BMW-Limousine, die Füße in rotbraun gemusterten Luis-Vuitton-Sneakern - "die sind wirklich sehr teuer!", kontert er den neugierigen Blick. Hinter dem Steuer sitzt Chobatovs Fahrer, tätowierte Oberarme, die Augen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille versteckt. Sein Chef ist Bulgariens erfolgreichster Makler von Luxusimmobilien, bis zu 400 Häuser und Apartments verkaufte er in den Boomjahren 2005/2006 - pro Monat meist an reiche Briten und Russen.

Seit vergangenem September jedoch sind die Verkäufe um 90 Prozent eingebrochen, ein Zehntel seiner 500 Mitarbeiter musste der studierte Jurist schon entlassen. Wie lang das noch so weitergeht? "Das weiß keiner", meint Chobatov. "Aber die Krise macht gesund, auch die Preise werden wieder normal werden. Und nach der Krise will ich Nummer eins auf dem gesamten bulgarischen Immobilienmarkt werden", sagt der Unternehmer und grinst. Chobatov ist 34 Jahre alt.

Während die meisten Regierungen der neuen EU-Mitglieder ihren Wählern die Notwendigkeit von erneuten radikalen Strukturreformen ängstlich verschweigen, haben die Jungen sie schon umgesetzt. "Die Menschen hier erinnern sich noch gut an die skandinavische Wirtschaftskrise in den Neunzigern", erklärt der estnische Soziologe Juhan Kivirähk seinen Landsleuten. "Sie sind eine extrem erfolgsorientierte Gesellschaft, sehr individualistisch. Deshalb glauben sie daran, sich aus eigener Kraft aus der Krise rausziehen zu können."