Nach dem Mord an einer Journalistin und dem tödlichen Polonium-Anschlag auf einen ehemaligen Spion ist die Welt alarmiert. Wie steht es um die Demokratie in dem Reich, in dem lange Tyrannen und Despoten die Knute schwangen?

Hamburg. Das Urteil über Russlands Staatsoberhaupt ist erfrischend eindeutig: "Er hat intellektuelle, politische, soziale und moralische Interessen verletzt. Kann man einen solchen Staatsmann lieben? Man kann es nicht." Der russische Philosoph Pjotr Kowalewski meinte in seiner Studie eigentlich Zar Peter den Großen (1672-1725). Doch viele im Westen meinen inzwischen, es könnte sich ebenso gut auf den gegenwärtigen Hausherrn im Kreml beziehen, Präsident Wladimir Putin.

Bei allen augenfälligen Unterschieden stehen beide für den janusköpfigen Charakter des Riesenreiches: Intelligenz und Kultur, aber auch Machtstreben und autoritäre Herrschaft. Zar Peter sagte über seinen grausamen Vorgänger Zar Iwan IV., "den Schrecklichen", der ebenso wie er den eigenen Sohn ermordete: "Einen Tyrannen können ihn nur Dummköpfe nennen, die seine Verdienste vergessen."

Autokratie als Vehikel zur Erzwingung von Stabilität scheint Russlands Schicksal zu sein. Und für die junge Demokratie ist sie nur ein Potemkinsches Dorf, wie in jener Legende, nach der Fürst Potemkin Zarin Katharina der Großen schmucke Orte aus Pappmache vorgeführt haben soll, um sie über das wahre Elend des Reiches hinwegzutäuschen?

Für Staaten wie Russland ist in die Politikwissenschaft vor wenigen Jahren der Begriff "Defekte Demokratie" eingeführt worden: nicht mehr totalitär, aber auch noch nicht wirklich demokratisch. Russlands lange Geschichte ist zutiefst geprägt von tyrannischen und autokratischen Herrschaftsformen. Bis 1917 waren es die Zaren, danach die sowjetischen Despoten, die vom Kreml aus ihre Knute schwangen.

Rüder Kapitalismus im ideologischen Vakuum

Das im Westen entwickelte Prinzip des politischen Wettbewerbs sowie der Gewaltenteilung ist dem fernen Osten Europas im Grunde fremd geblieben. Und der einzelne Mensch war angesichts der Weite des Reiches, seiner harten Natur und des unbedingten Anspruchs der Herrscher nahezu bedeutungslos. Nachdem die tönernen Füße unter dem Koloss Sowjetunion weggebrochen waren, nachdem ein rüder Kapitalismus in das ideologische Vakuum vorgestoßen und die Zentralmacht in der Ära des trunksüchtigen Präsidenten Boris Jelzin gefährlich erodiert war, tobt nun ein Kampf um Macht und Pfründe. Da ist natürlich zum einen der Kreml mit dem ehemaligen Geheimdienstchef Wladimir Putin an der Spitze. So wie Putin offenbar eine angeborene Schwäche einer Körperseite mit rigorosem Judo-Training zu überwinden trachtet, hat er Russlands kümmernder Demokratie ein autokratisches Stahlskelett eingezogen, um das unruhige Reich stabilisieren und zur alten Weltmachtgröße zurückführen zu können. Nach guter russischer Tradition wurden zunächst die widerborstigen Provinzfürsten, sprich Gouverneure, entmachtet.

Doch Putins Griff nach der Allmacht hat längst auch weite Teile der Medien sowie die wichtigsten Industriesparten erfasst. Zwar kann man aus den vergitterten Zellenfenstern der berüchtigten Lubjanka in Moskau, 1920 bis 1990 Geheimdienstzentrale und Staatsgefängnis, nicht mehr "Sibirien sehen", wie Insassen kläglich spotteten. Doch der gelbe Backsteinbau, in dem früher Hundertausende ge-foltert und Tausende ermordet wurden, beherbergt auch heute den Geheimdienst FSB, Nachfolger des KGB. Und dieser Dienst gilt als Putins langer Arm. Ehemalige KGB/FSB-Agenten sitzen an den wichtigsten Schaltstellen der Macht in Politik, Wirtschaft und Medien, drei Viertel der Regierungsbürokraten stammen bereits aus Geheimdienst und Militär.

Nun haben Russlands Dienste eine lange Historie der Gewalt, "nasse" Operationen ihrer Agenten, vulgo Morde, gehörten lange Zeit zum Handwerk. Doch ist Wladimir Putin, jener Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes mit aller Macht nach Westen drängt, dumm und skrupellos genug, politische Gegner wie die prominente Journalistin Anna Politkowskaja vor den Augen der Welt eliminieren zu lassen? Lässt er Killer im befreundeten Ausland einen windigen Klein-Spion wie Alexander Litwinenko spek-takulär mit dem extrem seltenen radioaktiven Element Polonium 210 umlegen? Oder handelt der Geheimdienst auf eigene Faust? Alles sehr unwahrscheinlich.

Doch Russlands Geheimdienste und Spezialeinheiten haben längst Metastasen in die Gesellschaft gestreut wie die dubiose Veteranenorganisation "Würde und Ehre", die sich nach den Worten ihres Vorsitzenden Oberst Walentin Welitschko vorgenommen hat, all jene Politiker und Oligarchen zu bestrafen, die dem Land schaden. Russland hat Tausende kampferfahrene Veteranen der Kriege in Afghanistan und Tschetschenien sowie Agenten, deren Kontakte wie Pilzfäden alle Ebenen des Systems durchdringen. Sie könnten gegen die Oligarchen eingesetzt werden, aber auch in ihrem Auftrag "nasse" Jobs erledigen.

Wer sich gegen Putin stellt, kann unter die Räder kommen

Die Oligarchen stellen neben dem Komplex Kreml die zweite Säule der russischen Machtstruktur dar. Bei Platon ist die Oligarchie die Herrschaft weniger Reicher, die die Macht usurpiert haben. Russische Oligarchen sind Geschäftsleute, die den Todeskampf der UdSSR nutzten, um die Kontrolle ehemaliger Staatsbetriebe und damit märchenhaften Reichtum zu erlangen. Der in London lebende Oligarch Roman Abramowitsch, zugleich Gouverneur des Kreises Tschukotka, was ihm strafrechtliche Immunität sichert, bezieht aus seinem MultimilliardenVermögen zum Beispiel rund zwölf Millionen Euro Zinsen.

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Abramowitsch ist ein Putin-Getreuer. Doch wer sich gegen den Präsidenten stellt, kann schnell unter die Räder kommen. Wie der Oligarch und frühere Jukos-Chef Michail Chodorkowski, dessen Unternehmen zerschlagen und der wegen Steuerhinterziehung und Betruges verurteilt wurde und nun acht Jahre Haft an der chinesischen Grenze absitzt. Sein Freund und Mit-Oligarch Boris Beresowski ist ebenfalls ein erklärter Putin-Feind und lebt im Londoner Exil. In seinen Büro-Räumen wurden Spuren jenes Poloniums gefunden, an dem Litwinenko qualvoll gestorben ist. Beresowskis Name tauchte im Jahre 2004 auch im Zusammenhang mit dem Mord am Gründungschefredakteur der russischen "Forbes"-Ausgabe, Paul Klebnikow, auf: Klebnikow hatte über Macht und Geschäftsgebaren der Oligarchen am Beispiel Beresowskis recherchiert.

Da die Attentate auf Politkowskaja, Litwinenko, Klebnikow und andere Unliebsame vor allem den Ruf Putins massiv schädigen, muss man bei der Beantwortung der alten Frage cui bono - wer profitiert - tief schürfen. Anfang 2008 wird in Russland ein neuer Staatspräsident gewählt. Wladimir Putin schwimmt auf einer Welle der Zustimmung von fast 80 Prozent, kann aber nicht zu einer dritten Amtszeit antreten. Doch wen immer er als Nachfolger nominiert, hat beste Chancen. Es sei denn, die Ultra-Popularität des "guten Zaren" würde erschüttert.

Nachfolger vor dem Sperrfeuer der Rivalen geschützt

Im Startloch für die Nachfolge stehen zum Beispiel Dimitri Medwedew, Ex-Chef des Gasriesen Gasprom und Erster stellvertretender Minister-präsident, ein Liberaler. Sowie Verteidigungsminister Sergej Iwanow, stellvertretender Ministerpräsident, ein Konservativer.

Sollte es jedoch Putin-Feinden gelingen, dessen Herrschaft zu diskreditieren, könnten andere Kandidaten in die Lücke stoßen. Und es gibt weitere, schwer einzuschätzende Faktoren wie den mächtigen Moskauer Bürgermeister und Oligarchen Juri Luschkow, dessen Frau Jelena Baturina binnen weniger Jahre irgendwie zur Milliardärin wurde. Es wird daher vermutet, dass Putin seinen wahren Nachfolger zurückhält, um ihn dem Sperrfeuer der Rivalen zu entziehen.

Wie rotierende Klingen kreuzen sich in Russland die Interessen des Kreml, diverser Organisationen und einzelner Kandidaten sowie der mächtigen Oligarchen. Weh dem, der als Hemmnis in diese tödliche Maschinerie gerät. Putins zaristischer Kurs wird im Westen argwöhnisch verfolgt. Gerhard Schröders "lupenreiner Demokrat" ist er wohl nicht.

Doch die Alternative, so meinen manche, könnte ein Auseinanderbrechen des Riesenreiches oder der Aufstieg eines echten Tyrannen alten russischen Stils sein.