Regierungskrise in Tschechien eskaliert. Jetzt ist der europa-kritische Staatspräsident Vaclav Klaus am Zug. Brüssel befürchtet eine Schwächung der Union in Zeiten der Finanzkrise.

Prag/Brüssel/Hamburg. Dieser Vorgang kommt für die Europäische Union (EU) zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Das tschechische Parlament hat gestern Abend Ministerpräsident Mirek Topolanek das Misstrauen ausgesprochen und damit den amtierenden EU-Ratspräsidenten zum Rücktritt gezwungen. 101 der in Prag anwesenden Abgeordneten stimmten für den Antrag der Opposition aus Sozialdemokraten und Kommunisten und erreichten so exakt die notwendige absolute Mehrheit. "Ich nehme das zur Kenntnis und werde mich verfassungsgemäß verhalten", sagte Topolanek unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses.

Seine Mitte-rechts-Regierung muss nun ihren Rücktritt einreichen. Bis der als EU-kritisch bekannte Staatspräsident Vaclav Klaus den Auftrag zur Regierungsbildung neu vergibt, bleibt das Kabinett geschäftsführend im Amt. Von den anwesenden 197 Abgeordneten stimmten 96 für den 52-jährigen Regierungschef, Enthaltungen gab es keine.

Jiri Paroubek, Vorsitzender der Sozialdemokraten und Oppositionsführer, sprach sich gestern für die Bildung einer "Experten-Regierung" aus. Topolanek hatte für den Fall einer Abstimmungsniederlage vorgezogene Neuwahlen nicht ausgeschlossen, wäre für einen entsprechenden Beschluss aber auf Oppositionsstimmen angewiesen, um eine verfassungsändernde Mehrheit zu erreichen.

Staatspräsident Klaus, dem nun eine Schlüsselrolle zufällt, hat sich bisher nicht zu seinen Plänen geäußert. Die Verfassung setzt ihm für eine Entscheidung kein Zeitlimit, er könnte also Topolanek auch bis zum 30. Juni, wenn die tschechische EU-Ratspräsidentschaft endet, im Amt lassen. Schweden übernimmt den EU-Vorsitz zum 1. Juli. Bereits für den 5. April ist in Prag ein EU-USA-Gipfel mit US-Präsident Barack Obama geplant, noch in dieser Woche ein informelles Treffen der EU-Außenminister im südböhmischen Hluboka nad Vltavou. In Brüsseler EU-Kreisen gab es gestern Abend besorgte Stimmen wegen der Regierungskrise in Tschechien. Die Finanz- und Wirtschaftskrise zwinge die EU dazu, mit einer Stimme zu sprechen. Wenn der Ratsvorsitz geschwächt sei, könnte die gesamte EU im Vorfeld des G20-Treffens nächste Woche in London als angeschlagen angesehen werden, hieß es. Bis Ende Juni stehen auch noch ein EU-Sondergipfel zur Arbeitsmarktpolitik, die Europawahlen sowie eine Entscheidung Irlands an, wann auf der Grünen Insel ein zweites Referendum zum Reformvertrag von Lissabon stattfinden soll.

Auch in Tschechien ist der Lissabon-Vertrag, dem alle 27 EU-Länder vor dem Inkrafttreten zustimmen müssen, noch nicht ratifiziert. Der Vertrag liegt derzeit dem konservativ geprägten Senat zur Abstimmung vor, die dortigen Vertreter von Topolaneks Bürgerpartei (ODS) gelten überwiegend als EU-kritisch. Kommentatoren und Diplomaten in Prag spekulieren, dass der Senat den EU-Reformvertrag kippen könnte, wenn die ODS-Senatoren sich nach der Demontage Topolaneks nicht mehr an die Parteilinie gebunden fühlen.

Der Vorsitzende der Sozialisten im Europäischen Parlament, Martin Schulz, äußerte sich besorgt über das Ende der tschechischen Regierung. "Ich hoffe aber, dass die EU-Ratspräsidentschaft reibungslos weitergeht und die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags fortgesetzt wird", sagte Schulz dem Abendblatt.

Der CDU-Europaabgeordnete und Experte für Außenpolitik, Elmar Brok, befürchtete, der EU-Reformvertrag könnte möglicherweise "beerdigt werden". Topolanek habe nun keine Möglichkeit mehr, vor dem Votum auf den Senat in Prag einzuwirken. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, sagte, der Ratifizierungsprozess sei nun "sehr geschwächt".

Die EU-Kommission erklärte in Brüssel, sie sei zuversichtlich, dass Tschechien die Ratspräsidentschaft trotz des Sturzes der Regierung "effizient" weiterführen werde. Ähnlich äußerte sich gestern Abend ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Regierung eines EU-Mitgliedstaats während des Ratsvorsitzes wechselt: Im ersten Halbjahr 1996 folgte in Italien eine linksgerichtete Regierung unter Romano Prodi nach einem Sieg bei den Parlamentswahlen auf die Mitte-rechts-Koalition von Lamberto Dini. Im ersten Halbjahr 1993 stürzte in Dänemark die konservative Regierung von Poul Schlüter, als das Land die EU führte.