Präsidentschaftskandidat appellierte in Berlin an die Eigenverantwortung der Gesellschaft. “Tendenz der selbstgewählten Ohnmacht.“

Berlin. Bürgerrechtler Joachim Gauck hat zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit mehr Anstrengungen zur Integration von Migranten und sozial Schwachen gefordert. Die „Abgehängten unserer Gesellschaft“ müssten die Eigenverantwortung wieder erlangen, sagte der frühere DDR-Bürgerrechtler und Bundespräsidentenkandidat am Sonnabend bei einer Feierstunde im Berliner Abgeordnetenhaus.

Das bedeute auch, „in den Problemzonen der Abgehängten Forderungen zu stellen", sagte er und fügte an: „Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.“ Beispielsweise sollten Kinder aus Einwandererfamilien möglichst früh in Krippen und Kitas, um Deutsch zu lernen. Gauck sagte, es gebe „Tendenzen der selbst gewählten Ohnmacht in Teilen der Bevölkerung“. Der Staat müsse auch Forderungen an eingewanderte Familien stellen, die noch nach Jahren nicht Deutsch sprechen. Nicht selbst zur Disposition stellen dürfe sich der Staat, sagte Gauck und verwies auf die Problembeschreibungen der gestorbenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig und des Bezirksbürgermeisters von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD).

Gauck warnte zugleich davor, sich von Angst leiten zu lassen, und mahnte eine Politik der Verantwortung und der offenen Kommunikation an. „Nichts lässt Menschen mehr verkümmern als Verweigern von Verantwortung, als Verantwortungslosigkeit“, sagte der erste Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Er verband damit die heutigen Probleme mit den Ereignissen von 1989 und 1990. „Ohnmacht kommt nicht nur von Diktatoren, Ohnmacht kommt auch von innen.“

Der Tag der deutschen Einheit sei für ihn ein politische Erntedanktag, sagte Gauck, der im Juni bei der Wahl zum Bundespräsidenten als Kandidat von SPD und Grünen gegen Christian Wulff unterlegen war.

Das Landesparlament und der Senat erinnerten in der Feierstunde gemeinsam an die Wiedervereinigung der Stadt vor 20 Jahren. Daran nahmen auch Botschafter und Gesandte der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands teil. Im Publikum saßen auch die drei letzten alliierten Stadtkommandanten von West-Berlin, François Cann (Frankreich), Raymond Haddock (USA) und Robert Corbett (Großbritannien). Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) sagte, Berlin habe sich in den vergangenen 20 Jahren zu einem internationalen Anziehungspunkt entwickelt. „Das Leuchtfeuer der Freiheit ist nicht erloschen.“

Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) erinnerte an die Aufbauleistung, die die Berliner seit 1990 vollbracht hätten. „Die Welt staunt über diese Stadt.“ Anwesend waren auch die Altbundespräsidenten Walter Scheel und Richard von Weizsäcker, der auch Regierender Bürgermeister West- Berlins gewesen war. Neben ihm saßen seine Vorgänger und Nachfolger im Bürgermeisteramt, Eberhard Diepgen, Klaus Schütz und Dietrich Stobbe. Auch die Witwe des letzten Ost-Berliner Oberbürgermeisters Tino Schwierzina, Brigitte, der DDR-Kosmonaut Siegmund Jähn und der Liedermacher Wolf Biermann waren gekommen.