Das Abendblatt berichtete ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September 2001, wie die Hamburger die Tage des Terrors erlebten und was geschah, als die Spuren der Attentäter auch nach Hamburg führten.

11. September 2001, 8.45 Uhr: der Moment, der die Welt veränderte. Die Boeing 767 der American Airlines, Flugnummer AA 11, bohrt sich in den Nordturm des World Trade Center. 18 Minuten später schlägt eine weitere Boeing 767, diesmal der United Airlines, Flugnummer UA 175, in den Südturm. Eine knappe Stunde später stürzen die Twin Tower kurz nacheinander ein. TV-Sender verbreiten schon wenige Minuten nach dem Anschlag Fernsehbilder - live. Mehr als 3000 Menschen sterben. Es ist ein Angriff auf Amerika, es ist ein Angriff auf die freie Welt. Die Staatengemeinschaft rückt zusammen, schlägt zurück, erklärt dem Terrorismus weltweit den Krieg. Amerika schwört: Wir jagen die Mörder. In Afghanistan wird das verbrecherische Taliban-Regime vertrieben, das Osama bin Laden und seiner Terror-Organisation Al Kaida Unterschlupf geboten hatte. Jetzt ist der Irak im Visier. Die große ABENDBLATT-SERIE beschreibt, wie Hamburger die Tage des Terrors erlebten - und wie sie reagierten, als zur Gewissheit wurde, dass die Todespiloten in Hamburg gelebt und hier ihre mörderischen Angriffe vorbereitet hatten.

11. September, kurz nach 15 Uhr, Winterhude, Krohnskamp

Sibylle D. (damals 44) fährt zum "toom"-Markt - einkaufen. Sie sitzt im Auto ihres Bruders Christian (42); es ist ein grünes Golf-Cabrio, beige Ledersitze. Im Autoradio läuft NDR 2. Plötzlich wird die Sendung unterbrochen. Ein Flugzeug ist in das World Trade Center geflogen. Sibylle D. kehrt sofort um, fährt nach Hause nach Harvestehude und schaltet den Fernseher ein.

Ihr jüngerer Bruder Christian arbeitet in einer Computerfirma in San Francisco - weit weg von New York. Sorgen um ihn macht sich Sibylle D. nicht. Später ruft sie ihre Mutter Jutta an. Die sagt: "Christian ist in New York, Sibylle. Geschäftlich. Gestern hat er sich noch gemeldet."

Sibylle D. ruft dann ihren Mann im Büro an. Auch er hatte den Fernseher eingeschaltet, ihn aber dann ausgestellt. "Er glaubte, es liefen Ausschnitte aus einem Action-Film." Danach versucht sie, ihren Bruder telefonisch zu erreichen. Vergeblich.

11. September, kurz nach 15 Uhr, Wilhelmsburg

Bürgermeister Ortwin Runde (SPD, 57) ist auf der Elbinsel, um sich über die Pläne für die Internationale Gartenbauausstellung 2013 zu informieren. Senatssprecher Ludwig Rademacher (50) erreicht seinen Chef über Handy und erzählt ihm von den Anschlägen. Runde ist entsetzt, bricht den Termin ab.

Zurück im Rathaus telefoniert er mit US-Generalkonsulin Susan Elbow. Die beiden kennen sich gut. Dann wird er von Innensenator Olaf Scholz (SPD, 43) über die Lage in Hamburg ins Bild gesetzt. Anschließend lässt er sich mit dem Bundeskanzleramt in Berlin verbinden.

11. September, 15.15 Uhr, Rotherbaum

CDU-Fraktionschef Ole von Beust (46) will gerade unter die Dusche, später steht ein Fernsehinterview an. Und der CDU-Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl am Sonntag, dem 23. September, hat schon eine Menge Termine hinter sich.

Da klingelt sein Telefon. Am anderen Ende seine Referentin Johanna Hadenfeldt: "Es ist etwas Schreckliches geschehen. Das müssen Sie sich im Fernsehen anschauen." Von Beust sitzt mit seinem Fahrer Jürgen Kernche gebannt vor dem Bildschirm. Er sieht wie die Türme zusammenstürzen, ist völlig ratlos: "Stehen wir vor einem Weltkrieg?", fragt sich der Politiker.

Dann fällt von Beust seine Tante ein, die in New York lebt. Er ruft sie an. Keiner meldet sich.

11. September, 16 Uhr, Polizeipräsidium Hamburg

Kriminaloberrat Reinhard Fallak (45) sitzt in der Polizeipressestelle und verfolgt gebannt die Berichte über den größten Terroranschlag aller Zeiten. Ein Kollege kommt in sein Zimmer im fünften Stock des Polizeisterns in Alsterdorf. Er sagt: "Jetzt fehlt nur noch, dass die aus Hamburg kommen." Ungläubiges Lachen.

Christoph Holstein (37), Sprecher von Innensenator Olaf Scholz (SPD), ist zu dieser Zeit mit dem Fahrrad unterwegs - eigentlich ist es dafür zu kalt (15 Grad) und zu nass (Nieselregen). Er fährt von der Innenbehörde am Johanniswall zu einem Termin mit Scholz im Ausländeramt an der Amsinckstraße. Da klingelt sein Handy. "Schalten Sie CNN ein", hört er von einem Mitarbeiter. Das tut Holstein auch, im Ausländeramt, zusammen mit seinem Chef. Kurz nach 16 Uhr fahren die beiden zurück in die Innenbehörde.

11. September, gegen 16 Uhr, in einem Einfamilienhaus südlich von Hamburg

Der Immobilienmakler Thorsten Albrecht (35) ist nach einem Anruf seines Bruders nach Hause geeilt, und hat den Fernseher eingeschaltet. "Es war der Moment, als der zweite Turm einstürzte." Bis dahin war es für den Sachverständigen für Grundstücke und Bauobjekte ein normaler Arbeitstag gewesen. "Danach habe ich die Welt wie durch Watte gesehen." Einige berufliche Telefonate, die er noch führte, hat er sofort wieder vergessen.

Zu den Objekten, die Albrecht betreut und vermakelt gehört auch ein helles, dreistöckiges Mehrfamilienhaus im Hamburger Stadtteil Harburg. Es liegt an der Marienstraße. Hausnummer 54 . . .

11. September, kurz vor 16 Uhr, Campus Technische Universität Harburg

Auf dem Parkplatz der TU hat sich um den silberfarbenen 5er BMW von Uni-Präsident Christian Nedeß (57) ein kleiner Auflauf von Studenten gebildet. Sie starren auf den kleinen Fernseher, der im Auto von Nedeß eingebaut ist. Der TU-Präsident hatte versucht, CNN in seinem Büro zu sehen. Aber der Empfang war zu schlecht. TU-Kanzler Jörg Severin (61) und Pressesprecher Rüdiger Bendlin (39) stehen neben Nedeß. Alle sind fassungslos.

11. September, kurz nach 16 Uhr, Schmiedeberg 4 in Kisdorf, nördlich von Hamburg

Der Waliser Craig Rees (32) ist Pastor in der Gemeinde der International Baptist Church. Bei ihm zu Hause in Kisdorf klingelt ununterbrochen das Telefon. Amerikaner aus seiner Gemeinde rufen an, suchen Trost, suchen Beistand, wollen über das Unfassbare reden. Viele haben Angehörige in New York.

Rees organisiert einen spontanen Gottesdienst in der Osdorfer Baptisten-Kirche. Um 19 Uhr stilles Gedenken in der Kirche. Dreißig Amerikaner, Australier, auch Deutsche sitzen im Kreis, halten sich an den Händen. In der Mitte ein Tisch, darauf eine Kerze und ein Kreuz. "The Lord is my Shepherd . . . " - "Der Herr ist mein Hirte . . . " Der Pastor hält eine kurze Predigt: "Jetzt weiß die Welt, dass es den Teufel gibt - in den Gehirnen der Menschen." Zwei Stunden beten die Menschen. Dann gehen sie auseinander.

11. September, gegen 16 Uhr, Firma Plankontor in Altona

Jörg Lewin (54) ist Geschäftsführer des Stadtplanungsbüros "Plankontor". Bei ihm arbeiten immer mal wieder Studenten der TU Harburg als Aushilfskräfte. Die Uni gilt als Elite-Schmiede. Tüchtige junge Leute kommen von dort. Ausländer sind oft dabei, Studenten aus der arabischen Welt. Ein gewisser Mohammed el Amir (el Amir heißt auf deutsch "der Anführer") war darunter. Fünf Jahre arbeitete Mohammed, ein streng gläubiger Moslem, bei Lewin als Zeichner. 19 Stunden die Woche, 1700 Mark im Monat.

"Unser Mohammed war fleißig und immer höflich. Aber er lachte nie." Zu Betriebsausflügen kam er nicht mit, Alkohol verabscheute er, trug immer graue Tuchhosen. Wenn er krank war, verweigerte er westliche Medizin. In den Arbeitspausen saß er abseits, murmelte Gebete vor sich hin.

Aber daran erinnert sich Lewin in diesem Moment, da er mit seinen Mitarbeitern über die furchtbaren Anschläge in New York spricht, noch nicht . . .

11. September, gegen 16.30 Uhr, Innenbehörde, Johanniswall

Innensenator Olaf Scholz ist zurück in seinem Büro im vierten Stock. Hektisches Treiben. Meldungen laufen ein, das Telefon klingelt ununterbrochen. HSV-Boss Werner Hackmann (54) sagt einen Termin für den Abend ab. Er war früher selber Innensenator, weiß, dass Scholz jetzt keine Zeit hat.

Der Innensenator trifft erste Entscheidungen. Verstärkter Polizeischutz für das US-Generalkonsulat an der Alster und die jüdischen Einrichtungen. Die Straßen um das Konsulat werden dichtgemacht. Andere Ideen, etwa die Hochhäuser an der Mundsburg zu räumen oder das anstehende Heimspiel des HSV abzusagen, werden verworfen.

Um 17 Uhr Schaltkonferenz mit dem Bundesinnenministerium, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundeskriminalamt. Noch geht es nur darum, ob auch Anschläge in Deutschland zu erwarten sind. Später bespricht sich Scholz, der auch SPD-Landesvorsitzender ist, telefonisch mit Bürgermeister Ortwin Runde. Beide sind einer Meinung: Der Wahlkampf wird erstmal gestoppt.

11. September, gegen 18 Uhr, Rathaus

Senatssprecher Ludwig Rademacher handelt unbürokratisch. Er lässt sich kurz vom Bürgermeister das Okay geben, dann ordnet er an, dass die Staatsflagge am Rathausturm einen Trauerflor bekommt. Alle anderen Behörden sollen es genauso machen. "Es geht darum, ein Zeichen zu setzen", sagt Rademacher.

Vor dem US-Generalkonsulat liegt inzwischen bereits ein kleines Blumenmeer - und Kerzen brennen an der Außenalster. Hamburg trauert.

(erschienen im Hamburger Abendblatt vom 7.9.2002)