Das Abendblatt berichtete ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September 2001, wie die Hamburger die Tage des Terrors erlebten und was geschah, als die Spuren der Attentäter auch nach Hamburg führten.

12. September, gegen 17.30 Uhr, Harvestehude

Sibylle D. (44) geht mit ihrem Mann und den beiden Söhnen an der Alster entlang zum US-Generalkonsulat. Vorher hatte sie vergeblich versucht, mit Konsulin Susan Elbow (44) zu sprechen, um Genaueres zu erfahren über das Schicksal ihres Bruders Christian (42). Sibylle D. bleibt bei den Trauernden stehen. Irgendwie tut es ihr gut.

12. September, kurz nach 18 Uhr, Marienstraße 51, Harburg

Wie üblich schließt Hannelore Haase (61) ihren Kiosk an der Ecke Marienstraße/Barlachstraße ab. Wie jeden Tag haben die Nachbarn bei ihr Zeitungen, Schokoriegel und Zigaretten gekauft. Der eine oder andere ist noch kurz stehen geblieben. Um zu reden: über den Anschlag in New York. Hannelore Haase ist eine Frau mit einem erfrischenden Lachen. Aber danach war der blonden Frau heute nicht zu Mute. Sie fährt nach Hause, in ihre Wohnung an der Straße Seestöcken in Harburg.

Mittwoch, 12. September, kurz nach 18 Uhr, Altona

Innensenator Olaf Scholz (SPD, damals 43) hat sich nach Hause fahren lassen. Anruf aus dem Lagezentrum der Polizei: Eine Irmintraut Jost (42) vom Springer-Auslandsdienst (SAD) verbreitet, dass mindestens einer der Terrorpiloten in Harburg gewohnt hat. Es gibt auch eine Adresse - Martin-Leuschel-Ring 54!

Scholz und die Staatsschützer sind sich einig: Zur Sicherheit soll da mal einer vorbeischauen.

12. September, 18.35 Uhr, Knoopstraße 33 in Harburg

Im Polizeikommissariat 46 ruft der Lagedienst an. Auftrag: Martin-Leuschel-Ring 54 überprüfen. Polizeikommissar Manfred Knüdel (43) handelt: Er beordert einen zivilen Funkstreifenwagen in den Martin-Leuschel-Ring. Die Besatzung meldet: "Hausnummer 54 (wie in der SAD-Meldung genannt, Anm. d. Red.) definitiv nicht vorhanden, Lage ruhig, bislang keine Pressevertreter festgestellt."

12. September, 19.10 Uhr, Polizeipräsidium Alsterdorf

Polizeisprecher Jörg Lauenroth (40) reagiert auf Anrufe von Journalisten. Die sprechen inzwischen nicht mehr vom Martin-Leuschel-Ring, sondern von der Marienstraße als mögliches Terror-Nest. Lauenroth gibt die Information an den Lagedienst weiter. Der ruft wieder im Polzeikommissariat 46 an: "Auftrag: Entsendung zusätzlicher ziviler Kräfte in die Marienstraße."

Schon fünf Minuten später melden die Beamten an den Diensthabenden im Lagezentrum: "Am Obs-Ort (Polzeijargon für Observationsobjekt, Anm. d. Red.) ist jetzt alles ruhig. Objekt wurde bereits durch zwei Filmteams abgedreht (inklusive Klingelleiste). Zunächst vier, jetzt sieben (Foto-)Journalisten im Haus." Darunter sind auch die Abendblatt-Reporter Birgit Schmidt und Jan Fischer.

12. September, 19.12 Uhr, Hannoversche Straße, Harburg

Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel (45) ist gerade auf der Hannoverschen Straße, Richtung Elbbrücken, Richtung nach Hause, als sein Handy klingelt. Schon wieder, denkt Jäkel. Zweimal hat man ihn schon nach Harburg geschickt - ohne Ergebnis. Jetzt muss er wieder umdrehen. Das wars mit dem Feierabend. Auf dem Stadtplan sucht er die Marienstraße.

12. September, 19.39 Uhr, Polizeipräsidium Alsterdorf

Ein Mitarbeiter der Polizeipressestelle bringt ein Fax zum Lagedienst. Es ist von der TV-Agentur RTC und ist überschrieben: "Kamikaze-Piloten lebten in Hamburg". Im Lagezentrum entscheidet Kriminaloberrat Felix Schwarz (37), der um diese Zeit so genannter Polizeiführer vom Dienst (PFvD) ist: "1. Absperrung Marienstraße 54 (ca. 50 Meter links und rechts), 2. mit Kollegen Jeschik/Polizeikommissariat 46 die Reporter aus dem Haus bitten, 3. Zugang nur für Anwohner."

Anschließend wird der Berliner Krisenstab im Innenministerium informiert.

12. September, gegen 20 Uhr, Birkenweg, Meckelfeld

Peter Stählin (23) sitzt in seiner Studentenbude. Er lernt an der TU Harburg, ist Präsident des Studentenparlaments. Im Moment versucht er sich zu konzentrieren. Für den 14. ist eine Klausur angesagt - Werkstoffkunde. Aber seine Gedanken schweifen immer wieder ab: Wer kann nur so etwas Schreckliches tun, Flugzeuge als Bomben benutzen? Später sieht er noch eine der TV-Sondersendungen. Das ist plötzlich von Harburg die Rede und von der Marienstraße . . .

12. September, 20.10 Uhr,

Rathaus

Im Zimmer von Senatssprecher Ludwig Rademacher (50) läuft im Fernsehen die Tagesschau. Rademacher telefoniert gerade mit der Einsatzzentrale im Polizeipräsidium. Er lässt sich über den Einsatz in der Marienstraße informieren. Der gelernte Journalist wird hellhörig und will ab sofort über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden gehalten werden. Dann geht er zu Bürgermeister Ortwin Runde (SPD, 57).

12. September, 20.18 Uhr, Polizeipräsidium

Polizeiführer vom Dienst Felix Schwarz erkennt: Da kommt was auf uns zu. Terrorspur nach Harburg? Er verfügt: Für die Landesbereitschaftspolizei gilt ab sofort Ausgangssperre. Wer jetzt noch Bereitschaftsdienst hat, hat Pech.

12. September, gegen 20.30 Uhr, Polizeipräsidium

Während Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel in der Marienstraße 54 erste Nachbarn befragt, werfen seine Kollegen im Präsidium die große Abfragemaschine an: Einwohnermeldeamt, Ausländerzentralregister, Verfassungsschutz. Die ersten Puzzleteile fügen sich zusammen. Der vom FBI gesuchte Mohammed Atta ist identisch mit dem in Hamburg unter der Adresse Marienstraße 54 gemeldeten Mohammed El Amir. Und als Mitbewohner tauchen noch mehr Namen auf.

Auch der Hamburger Verfassungsschutz hat die Marienstraße 54 in seinen Akten. Und das kam so: Am 17. Februar 1999 hatten Verfassungsschützer einen verdächtigen Islamisten abgehört. Es handelte sich um einen gewissen Mohammed Haydar Zammar, der in der Al-Kuds-Moschee am Steindamm 103 mit Hetzreden aufgefallen war. Laut Telefonmitschnitt wollte damals ein Anrufer wissen, "wo denn Zammar ist?" Der sei nicht da, aber unter der Hamburger Telefonnummer 765 518 30 zu erreichen. "Er sitzt dort mit Mohammed, Said und Ramzi zusammen."

765 518 30 - das ist die Telefonnummer eines Anschlusses in Harburg, Marienstraße 54, Inhaber der Nummer: Mohammed El Amir oder wie er jetzt heißt: Mohammed Atta.

12. September, 20.45 Uhr, Marienstraße 54, Harburg

Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel hat mit Nachbarn gesprochen, und die haben bestätigt: Ja, hier haben Araber gewohnt. Sehr ordentliche Leute, eigentlich. Die Schuhe standen immer in Reih und Glied vor der Tür. So vier bis acht Männer waren das etwa. Nicht immer dieselben. Die hatten Bärte und Kaftane, und manchmal war auch ein Turbanträger dabei. Und: Die haben immer so laut gebetet. Wir wollten schon mal die Polizei rufen. Seit Februar steht die Wohnung im ersten Stock links aber leer. Und beim Auszug hatten sie ihre paar Sachen in Einkaufswagen die Straße heruntergeschoben.

Jetzt steht Jäkel vor der Wohnungstür. Die braune Fußmatte liegt noch da. "Moin, Moin", steht darauf. Um genau 20.47 Uhr bestellt er einen Schlüsseldienst. Und Staatsschutz-Vize, Kriminaloberrat Martin Bähr (42), ordert zur Sicherheit noch den Sprengstoffspürhund (Polizeijargon: TNT-Hund, Anm. d. Red.). Der heißt Ando und ist ein Schäferhund.

12. September, kurz nach 21 Uhr, Axel-Springer-Haus, Abendblatt-Redaktion

Noch eine Stunde bis zum Andruck. Im Produktionsraum werden gerade die Überschriften für die Seite 1 gemacht. Eine Zeile heißt: "Entführer sind identifiziert". Darunter steht: "Polizei durchsucht Wohnung in der Harburger Marienstraße". Senatssprecher Ludwig Rademacher (50) will mit Chefredakteur Menso Heyl (52) sprechen: "Macht das Abendblatt etwas über die Marienstraße? Das ist eine kalte Spur, an der Wohnung war der Verfassungsschutz schon vor längerer Zeit dran."

Heyl ruft Reporter und Redakteure: "Wie seht ihr das?" Die verweisen auf ihre Quellen. Heyl entscheidet: "Wir drucken das."

12. September, kurz nach 21 Uhr, Marienstraße 54, Harburg

Die Tür ist offen. Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel betritt die Wohnung. Alles leer. Links ein Zimmer, rechts ein Zimmer, geradeaus die Tür zum Bad. Alles besenrein. Jäkel schaltet seine Taschenlampe ein. Als die Mieter auszogen, haben sie sogar die Glühbirnen mitgenommen.

12. September, 21.30 Uhr, Harvestehude

Sibylle D. ist daheim. Sie ist jetzt mehr als 17 Stunden auf den Beinen. Eigentlich ist sie todmüde, aber schlafen kann sie nicht. Nicht in dieser Nacht, nicht in den nächsten drei Wochen.

(erschienen im Hamburger Abendblatt vom 10.09.2002)