Das Abendblatt berichtete ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September 2001, wie die Hamburger die Tage des Terrors erlebten und was geschah, als die Spuren der Attentäter auch nach Hamburg führten.

Donnerstag, 13. September, kurz nach 1.30 Uhr, Ehestorfer Weg, Harburg

Das Klingeln seines Telefons reißt TU-Kanzler Jörg Severin (damals 61) aus dem Schlaf. Am anderen Ende ist Polizeipräsident Justus Woydt (61), sein Amtsvorgänger. Er ruft aus dem Führungsstab im Polizeipräsidium in Alsterdorf an. "Wir müssen an Ihren Datenbestand", sagt Woydt, sonst nichts. "Jetzt?", fragt Severin entgeistert. Stille. Drei Sekunden, fünf Sekunden? Severin weiß es nicht mehr. Er weiß nur, dass ihn plötzlich eine Ahnung durch den Kopf schießt: "Mein Gott, New York?"

"Ja, jetzt, schnell", antwortet der Polizeipräsident.

13. September, kurz nach 1.30 Uhr, Harvestehude

Sibylle Dircks (44) ist nur ganz kurz eingenickt. Sekundenschlaf. Immer kreisen die Gedanken um ihren Bruder Christian (42) in New York. Wie alles passiert sein könnte. Ob er es aus dem 106. Stock <<des>> Nordturms vom World Trade Center vielleicht doch nach unten geschafft haben könnte. Und auch dies: Wie ihr Bruder als kleiner Junge bei Gewitter nachts zu ihr ins Bett krabbelte. Und Sibylle Dircks denkt darüber nach, dass sie ihre Pläne jetzt immer sofort umsetzen wird.

Schon seit langem wollte Sibylle Dircks mit Christian nach Österreich zum Skifahren.

13. September, 1.45 Uhr, Campus TU Harburg

Jörg Severin hat nur 15 Minuten gebraucht, um sich anzuziehen und in die Uni zu hasten. Er steht im Computerraum. Neben ihm stehen drei LKA-Beamte, sie haben eine Liste mit 13 Namen, zwölf Männer und eine Frau. Obwohl es im Raum kühl ist, schwitzt Severin. Er kommt nicht an die Studentendateien - er weiß das Passwort nicht - "Access de-nied" (Zugang verweigert).

Severin ruft eine Mitarbeiterin des Studentensekretariats an. "Kommen Sie bitte sofort. Es ist dringend. Wegen der Anschläge." Die junge Frau wird von der Polizei mit Blaulicht abgeholt.

13. September, 1.50 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

Kriminaloberrat Martin Bähr (42), Vize-Chef beim Staatsschutz, sichtet immer noch einlaufende Meldungen und Auskünfte aus den Datenbänken der Meldeämter. "Die Informationsflut in dieser Nacht war, als ob fünf Fernseher mit unterschiedlichen Programmen laufen - und du guckst alle gleichzeitig."

Er muss trotzdem alles sichern. "Aussortieren", sagt er seinen Mitarbeitern, "können wir immer noch." Fast jede Information eine neue Spur. Um 2.05 Uhr gibt es neue Namen und neue Adressen. Ramzi Binalshibh, Zakariya Essabar, Abdelghani Mzoudi: alle hatten mal in der Marienstraße 54 gewohnt. Und alle sind noch in Hamburg gemeldet. Im Schleemer Ring 2 in Billstedt, an der Dortmunder Straße 38 in Langenhorn, in der Straße Op De Wisch 15 in Fischbek.

Wieder machen sich MEK-Sturmtrupps auf den Weg. Bähr kann in diesem Moment noch nicht wissen, welche Brisanz diese Namen haben - dass zum Beispiel Binalshibh der "Bankier" der Terrorpiloten um Atta ist. Er weiß nur eins: Die Männer auf seinen Listen saßen entweder in den fliegenden Bomben, die das World Trade Center in einen Haufen Schutt verwandelten, oder waren mit ihnen gut bekannt.

Auf Bährs Übersichtstafel entsteht in dieser Nacht ein erstes Netzwerk des Terrors, das Hamburg in den kommenden Stunden und Tagen in den Fokus der Weltöffentlichkeit rücken wird.

13. September, etwa 2 Uhr, in einem Einfamilienhaus, südlich von Hamburg

Makler Thorsten Albrecht (35) ist noch wach. Bis vor kurzem hatte er die Polizei im Haus. Die Beamten wollten alles wissen über die letzten Mieter der Wohnung an der Marienstraße 54. Und wer da sonst noch so ein- und ausgegangen ist. Und wer die Rechnungen bezahlt hat - und wie - und wie pünktlich. Albrecht gibt ihnen Leitz-Ordner mit - die Grundakte und den Mieterordner mit allen Mietverträgen. Auf einem drei Namen: Mohammed El Amir (Atta, die Red.), Said Bahaji, Ramzi Binalshibh. Die Polizisten rücken ab. Albrecht verspricht, in der Frühe in seinem Bahrenfelder Büro nach weiteren Unterlagen zu schauen. Um 9 Uhr will er damit ins Polizeipräsidium kommen.

13. September, etwa 2 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

In einem Vernehmungszimmer sitzt Nese, die türkischstämmige Frau von Said Bahaji. Tief verschleiert, nur ihre braunen Augen sind zu sehen. Eine Funkstreife hat sie von der gestürmten Wohnung an der Bunatwiete 23 hierher gefahren. "Wo ist Ihr Mann?", wollen die Beamten wissen. Nese Bahaji schüttelt mit dem Kopf, sagt nicht viel: "Said macht einen Computerkursus. In Pakistan. Vor einer Woche ist er abgereist."

Die Fahnder blicken sich an. Eine Woche vor den Anschlägen. Das riecht nach Absetzen. Wenige Wochen später wird klar sein, dass Bahaji, geboren in Haselünne im Emsland als Sohn einer deutschen Mutter und eines Marokkaners, tatsächlich nach Pakistan gereist ist - aber nicht zum Computerkursus, sondern um bei seinen Al-Kaida-Freunden abzutauchen. Und es wird klar sein, dass Bahaji der "Cheflogistiker" der Hamburger Terrorzelle war, unter anderem zuständig für falsche Pässe.

13. September, gegen 3 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

In der Pressestelle sitzt ein verzweifelter Kriminaloberrat Reinhard Fallak (45). Der ehemalige MEK-Mann wünscht sich, besser Englisch sprechen zu können. Amerikanische TV-Sender, spanische Radiostationen, Massenblätter aus Japan - Fallak hat die Welt am Telefonhörer. Und alle wollen alles ganz genau wissen. Fallak versucht, viel zu erzählen, ohne wirklich viel zu sagen. Und das auf Englisch . . .

13. September, kurz nach 3 Uhr, Lohbrügge

Rüdiger Bendlin (39), Sprecher der TU Harburg, ist heute ganz früh wach. Er muss zum Zug, wegen einer Tagung in Witten in Nordrhein-Westfalen. Seine Frau lässt er schlafen.

13. September, 3.40 Uhr, Hansastraße 40, Harvestehude

Das MEK bekommt einen neuen Auftrag - und einen neuen Namen. Ein Ziad Samir (später wissen die Ermittler, dass der Mann Jarrah mit Nachnamen heißt, aus dem Libanon stammt und einer der Todespiloten ist) soll in der Hansastraße 40 wohnen. Das MEK beginnt mit der Aufklärung. Ohne Ergebnis.

13. September, kurz nach 4 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

Christoph Holstein (37), Sprecher von Innensenator Olaf Scholz, geht zu Reinhard Fallak. Holstein will schon mal einen Pressetext schreiben, der am Vormittag verteilt werden soll. Er stimmt ihn mit Fallak ab. Beide sind übernächtigt. Fallak bietet ihm das Du an. Sie trinken eine Tasse Kaffee miteinander.

13. September, 4.30 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

40 Mann vom BKA werden angekündigt. Sie kommen aus Wiesbaden und Meckenheim bei Bonn. Fürs Erste sollen sie im großen Konferenzraum im 4. Stock untergebracht werden. Hier sind zehn zusätzliche Telefone und vier Computer installiert.

13. September, 5.30 Uhr, Polizeipräsidium Alsterdorf

Noch immer ist unklar, ob Generalbundesanwalt Kay Nehm das Verfahren übernimmt. Innensenator Olaf Scholz (SPD, 43) telefoniert mit Nehm. "Das ist ein Fall für Sie", insistiert er. Ein Nehm-Vertreter hatte vorher Bedenken gehabt. Ein Kompetenz-Chaos drohte zu entstehen. Ohne die Übernahme durch Nehms Behörde hätte auch das BKA, wo sich Staatsschutzchef Klaus Neidhard schon um 0.49 Uhr für zuständig erklärt hatte, wieder abrücken müssen.

Scholz überzeugt Nehm. Um 5.40 Uhr haben es die Hamburger schriftlich. Per Fax erklärt Nehm sich für zuständig. Die Hamburger Polizei ist ab sofort außen vor, das MEK wird abgezogen.

13. September, gegen 6.30 Uhr, im Metropolitan-Zug zwischen Hamburg und Essen

Rüdiger Bendlin wird von seiner Frau über Handy angerufen. Sie sagt: "Die Attentäter von New York, das waren Studenten bei euch." Das hat sie in den Frühnachrichten gehört. Vom Zug aus ruft er die TU an. Erste Anfragen, Fernseh-Teams aus aller Welt sind schon im Anmarsch auf den Ort, wo mehrere der Terroristen studiert haben. Bendlin und TU-Kanzler Severin beschließen: Bendlin muss zurück. Ausgerechnet in diesem Moment macht sein Handy schlapp. Akku leer. Er fährt noch bis Essen, nimmt den nächsten Zug nach Hamburg.

13. September, 7.10 Uhr, Harburg

Hannelore Haase (61) will gerade los, um wie jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr ihren Kiosk an der Marienstraße 51 aufzumachen. Da ruft ihre Schwester an: "Hannelore, dein Laden ist im Fernsehen. Ehrlich. Wegen des Anschlags in Amerika."

(erschienen im Hamburger Abendblatt vom 12.09.2002)