Das Abendblatt berichtete ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September 2001, wie die Hamburger die Tage des Terrors erlebten und was geschah, als die Spuren der Attentäter auch nach Hamburg führten.

Mittwoch, 12. September, 4 Uhr, Harvestehude

Sibylle D. (damals 44) schreckt hoch. Bis jetzt hat sie "relativ gut" geschlafen. "Warum ruft Christian eigentlich nicht zurück?", schießt es ihr durch den Kopf. Eine Weile bleibt sie im Dunkeln liegen, versucht sich vorzustellen, warum ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, der in New York ist, sich nicht meldet. Bestimmt sind die Telefonleitungen unterbrochen, denkt sie. Eine andere Möglichkeit: Er hilft vielleicht bei den Rettungsarbeiten. Sie versucht es noch mal über Handy. Die Mailbox springt an, sie hört die Stimme ihres Bruders. Sibylle D. hält das für ein gutes Zeichen.

12. September, 6.45 Uhr, Rahlstedt

Kriminaloberrat Martin Bähr (42) vom Staatsschutz fährt an diesem Morgen schon früh von zu Hause los. Seine Frau und die beiden Töchter (3 und 14 Jahre alt) schlafen noch. Leise hatte er sich angezogen. Grauer Anzug, Krawatte. So fährt er sonst nicht zum Dienst. Aber er ist heute Beisitzer bei einer Prüfung an der Fachhochschule.

12. September, 8 Uhr, Harvestehude

Endlich klingelt das Telefon bei Sibylle D. Aber nicht Bruder Christian ist dran, sondern ein amerikanischer Kollege ihres Bruders. Er sagt: "Sorry, he is in the building." Pause. Mehr weiß er angeblich auch nicht.

12. September, 8.30 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

In der Abteilung Staatsschutz werden die Faxe aus der Nacht durchgesehen. Alles noch Routine. So hatte um 3.43 Uhr das Bundesinnenministerium allen Landeskriminalämtern eine kurze Lageübersicht aus dem deutschen Generalkonsulat in New York übermittelt. Im Meldungskasten die Notiz, dass um 4.45 Uhr die Posten an den jüdischen Einrichtungen abgelöst worden waren. Und es gibt jede Menge Meldungen von Presseagenturen über die Attentate.

Dann surrt das Fax-Gerät erneut. Vom Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden eine Bitte um Amtshilfe für die amerikanische Bundespolizei FBI. Die Wiesbadener haben das Schreiben bereits für ihre Hamburger Kollegen übersetzt. Es geht um Ermittlungen "bezüglich Mohammed Atta" und seines angeblichen Cousins Marwan Al Shehhi.

Anfrage beim Einwohnermeldeamt: negativ - "Gibt's hier nicht."

Kurze Lagebesprechung, dann fährt Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel (45), Abteilungsleiter beim Staatsschutz, um 9.04 Uhr mit seinem Kollegen Dieter Krause im roten 3er-Dienst-BMW nach Harburg. Dort, so das Schreiben aus den USA, soll Atta in der Straße Am Centrumshaus gewohnt haben. An der Stelle steht ein Studentenheim. Der Hausmeister ist nicht da. In der Pförtnerloge liegt ein Zettel mit seiner Telefonnummer. Man verabredet sich für den Nachmittag.

12. September, gegen 9 Uhr, Rathaus

Senatssprecher Ludwig Rademacher (50) erhält einen Anruf von Abendblatt-Chefredakteur Menso Heyl (52). Heyl redet mit ihm über eine große Trauerkundgebung, zu der das Abendblatt aufrufen will. Rademacher findet die Idee grundsätzlich gut.

Eine Stunde später gibt Bürgermeister Ortwin Runde (SPD, 57) bekannt: Der Senat ruft für den darauf folgenden Tag zu einer großen Kondolenz-Veranstaltung vor dem Rathaus auf.

12. September, 11 Uhr, Rathaus

Bürgermeisteramtszimmer von Ortwin Runde: Spitzentreffen der Hamburger Politik. Gekommen sind Ole von Beust (CDU-Bürgermeisterkandidat), Rudolf Lange (Landesvorsitzender der FDP), Wissenschaftssenatorin Krista Sager für die GAL und Heike Sudmann von der GAL-Absplitterung Regenbogen. Mit dabei ist Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeldt (SPD). Richter Ronald Schill von der gleichnamigen Partei darf nicht teilnehmen.

Die Frage, ob man angesichts der Terroranschläge noch Wahlkampf machen darf, ist schnell beantwortet. Nein. Bis zum nächsten Montag soll der Wahlkampf ruhen. Eine Verschiebung der Bürgerschaftswahl vom 23. September will niemand.

12. September, vormittags, Staatsoper, Dammtorstraße

Ballettdirektor John Neumeier (59) kommt kaum zum Arbeiten. Diverse Interview-Anfragen an den weltberühmten Künstler aus den USA liegen vor. Er gibt Auskunft über seine Gefühlswelt. Und darüber, wie seine internationale Balletttruppe mit den schrecklichen Bildern umgeht. In seinem Kopf entstehen die ersten Szenen, wie das Grauen künstlerisch verarbeitet werden kann. Später werden in der "Winterreise" Tänzer wie kopflos mit Koffern über die Bühne rennen - "Diese Szene ist ganz eindeutig von der Katastrophe in New York beeinflusst."

12. September, 9 Uhr Ortszeit, Los Angeles

Irmintraut Jost (42), Leiterin des New Yorker Büros des Springer-Auslandsdienstes (SAD), sitzt in Los Angeles fest. Die Journalistin wollte schon am Vortag aus dem Urlaub zurück. Aber der Luftraum über den USA ist gesperrt. Sie telefoniert mit Informanten. In Miami (Florida) erreicht sie jemanden, der Kontakt zum FBI hat. Ihm hat ein FBI-Agent etwas erzählt, was er eigentlich nicht sagen darf. Ein Cousin von Mohammed Atta, inzwischen in den USA als Terrorpilot identifiziert, solle in Hamburg gelebt haben. Als Adresse nennt der FBI-Ermittler die "Martinstraße 54" und eine Postleitzahl: 21073.

Über das New Yorker SAD-Büro gibt sie eine so genannte Dienstmeldung an die angeschlossenen Hamburger Redaktionen des Axel Springer Verlags heraus. Darüber steht: "WTC: Spur führt nach Hamburg". Es ist kurz vor 17 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit. Die Meldung landet auch in der Polizeiredaktion vom Abendblatt. Die Medienmaschine beginnt zu arbeiten. Erste Anfragen werden an die Polizeipressestelle gerichtet.

12. September, 15.30 Uhr, Polizeipräsidium Alsterdorf

Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel ist zum zweiten Mal auf dem Weg nach Harburg. Diesmal hat er Fotos dabei, die er aus der Ausländerbehörde bekommen hat. Die Fotos zeigen Männer, deren Namen ähnlich klingen wie die von Atta und Al Shehhi. Und diesmal trifft er den Hausmeister und seine Frau an. Die beiden blicken auf die Fotos, schütteln den Kopf: "Die kennen wir nicht."

Jäkel hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Er kauft sich ein paar kalte Würstchen, Marke "Landjäger". Dann fährt er los. Feierabend, glaubt er.

12. September, 15.30 Uhr, Harvestehude

Bei Sibylle D. (44) klingelt das Telefon. Es ist wieder der Kollege ihres Bruders Christian. Diesmal sagt er mehr. Christian war in der 106. Etage des Nordturms. 106. Etage - das ist zehn Stockwerke über der Stelle, an der die Boeing 767, die Mohammed Atta steuerte, einschlug. Sibylle D. fragt den Kollegen ihres Bruders: "Warum leben Sie? Und Christian nicht?" Sie fragt das, obwohl sie noch nicht sicher wissen kann, dass ihr Bruder tot ist. Aber sie hat die Bilder im Fernsehen gesehen. Die Menschen, die aus den obersten Stockwerken winken, die verzweifelt aus den Fenstern springen. Und der 106. Stock ist sehr weit oben.

12. September, kurz vor 16 Uhr, Polizeipräsidium, Alsterdorf

Kriminaloberrat Martin Bähr ist von der Fachhochschule zurück und wühlt sich durch den Berg von Fernschreiben und Lagedarstellungen auf seinem Schreibtisch. Sein Chef beim Staatsschutz, Bodo Franz (49), trifft ein. Er hat seinen Urlaub in Italien abgebrochen. Kriminalhauptkommissar Jäkel, schon auf dem Nachhauseweg, hat durchgegeben, dass die Recherchen in Harburg nichts ergeben haben. Polizeisprecher Reinhard Fallak denkt: Im Grunde ist die Spur nach Hamburg jetzt tot.

12. September, kurz nach 18 Uhr, Rathausstraße in Harburg

Auch in den Redaktionsräumen der "Harburger Anzeigen und Nachrichten", Hamburgs ältester Tageszeitung, hat die SAD-Meldung von Irmintraut Jost für Aufruhr gesorgt. Drei Reporter rücken aus. Unter ihnen ist Wolfgang Gnädig (54). Er hat früher mal die "Harburg ganz persönlich"-Seite betreut, inzwischen ist er Lokalreporter. Als er zu Fuß am Martin-Leuschel-Ring eintrifft, ist die Medien-Meute schon da. Alle suchen die Hausnummer 54. Aber die gibt es nicht. Die Straße geht nur bis Nummer 30. Ratlosigkeit.

Gnädig denkt nach. Er kennt sich aus in Harburg. "Versuchen wir es doch mal in der Marienstraße", sagt er. Gnädig geht vor, die Meute hintendran.

In der Marienstraße: Der Mann von den "Harburger Anzeigen und Nachrichten" hat den richtigen Riecher gehabt. Hier ist eine Hausnummer 54. Die Reporter gehen ins Haus, fragen nach: "Hat hier mal ein gewisser Al Shehhi gewohnt?" "Ja."

Der Terror ist in Hamburg-Harburg angekommen.

(erschienen im Hamburger Abendblatt vom 9.9.2002)