Die dreijährige Yagmur starb nach schwersten Misshandlungen an inneren Blutungen. Auch in diesem Fall deutet alles auf krasse Fehlentscheidungen der Behörden hin.

Es ist fast so, als läge ein Fluch über der Stadt. Erst am Donnerstag voriger Woche diskutierten die Abgeordneten der Bürgerschaft den Abschlussbericht zum tragischen Tod der elfjährigen Chantal, die im Januar 2012 in einer Wilhelmsburger Pflegefamilie an einer Überdosis Methadon starb. Man müsse alles tun, um ein Behördenversagen wie in diesem Fall künftig möglichst zu verhindern, versicherte man sich gegenseitig, Und gerade einmal sechs Tage später starb am Mittwoch die drei Jahre alte Yagmur „Yaya“ Y. nach schwersten Misshandlungen an inneren Blutungen. Auch hier deutet alles auf krasse Fehlentscheidungen der Behörden hin. Damit sind seit 2004 sechs Mädchen in Hamburg gestorben, weil Behördenmitarbeiter Fehler machten: Michelle, Jessica, Morsal, Lara Mia, Chantal und jetzt Yaya. Im Schnitt stirbt also in Hamburg alle anderthalb Jahre ein Kind, weil die Verwaltung versagt.

In der Politik herrscht seit Mittwoch eine Mischung aus Sprach- und Ratlosigkeit. Was hat man in den vergangenen Jahren nicht alles getan, um die Jugendhilfe weniger fehleranfällig zu machen. Man hat eine teure neue Software namens Jus-IT eingeführt, damit keine Daten mehr zwischen den unterschiedlichen Behörden verloren gehen. Man hat die bundesweit strengsten neuen Vorschriften für die Unterbringung von Pflegekindern erlassen, ein eigenes Qualitätsmanagement für die Jugendhilfe eingeführt, mehr Stellen besetzt und eine bei der Sozialbehörde angedockte Jugendhilfeinspektion eingerichtet. Auch hat das jetzt erneut verantwortliche Jugendamt Mitte einen neuen Leiter bekommen. Genützt hat all das nichts. Menschliches Versagen könne eben auch durch das beste System nicht sicher verhindert werden, heißt es nun resigniert.

Bezirksamtsleiter Andy Grote hat den ersten Fehler schon gemacht

„Das ist alles so bitter“, sagt die SPD-Kinder- und Jugendpolitikerin Melanie Leonhard. Angesichts der fatalen Fehlentscheidungen, die Mitarbeiter der Jugendämter zuletzt immer wieder gefällt haben, will sie jetzt das Thema Ausbildung und Qualifizierung in den Mittelpunkt rücken. Ein 24-Jähriger, der frisch von der Hochschule komme, sei zwar auf dem Papier qualifiziert. Zugleich wisse er ohne jede Praxis aber vermutlich gar nicht, wie das Zimmer eines achtjährigen Kindes normalerweise aussehe, so Leonhard. Ohne solche Praxis-Erfahrungen könne man aber gefährliche Situationen nicht erkennen. Man müsse überlegen, ob man etwa ein Praxisjahr zur Pflicht mache, bevor jemand verantwortlich für die Beurteilung von Fällen werde. Außerdem könne es sinnvoll sein, nicht nur Hochschulabsolventen einzustellen, sondern auch Erzieher oder Kinderkrankenschwestern, die oft mehr Praxiserfahrung mitbrächten.

Das sieht die Grünen-Politikerin Christiane Blömeke ähnlich. „Wir müssen die Jugendämter aber auch endlich besser ausstatten“, sagt sie. Die Mitarbeiter dort seien nach wie vor überlastet. Der CDU-Familienpolitiker Christoph de Vries wirft nach dem Tod der dreijährigen Yaya im Haushalt der leiblichen Eltern dazu auch eine andere Frage auf: „Wir müssen hinterfragen, ob es wirklich richtig ist, die Rückkehr der Kinder zu den leiblichen Eltern auch bei schwierigsten Verhältnissen immer als erstes Ziel anzustreben“, so de Vries.

Hinter den Kulissen beginnt es derweil zu brodeln. Im Rathaus und in der Sozialbehörde ist man nicht sehr glücklich mit dem bisherigen Krisenmanagement des zuständigen Bezirksamtsleiters von Hamburg-Mitte, Andy Grote. „Wir hatten keine Erkenntnisse, dass im elterlichen Haushalt eine Gefahr für das Kind bestand“, hatte der SPD-Politiker bald nach Bekanntwerden des Todes von Yaya gesagt. Eine seltsame Aussage angesichts der dokumentierten schweren Verletzungen des Kindes, der kriminellen Vorgeschichte des Vaters und der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die seit längerem liefen.

Der unbedachte Satz könnte sich schnell bitter rächen, wenn sich bei der Prüfung der Akten anderes ergibt. Hinzu kommt: Der Versuch, sein Jugendamt und sich selbst vorschnell freizusprechen und dafür den anderen beteiligten Bezirksämtern die Schuld zuzuschieben, kam auch in Sozialbehörde und Rathaus nicht gut an, wie zu hören ist. Dort weiß man, dass Schwarzer-Peter-Spielchen nach dem Tod eines Kindes eine verheerende Außenwirkung haben. Man müsse jetzt die Nerven behalten, heißt es dort – und schweigen, bis die Fakten klar seien.

Grotes Patzer irritiert auch deshalb, weil sein Vorgänger Markus Schreiber 2012 nach dem Tod Chantals von Bürgermeister Olaf Scholz wegen ähnlich unbedachter Äußerungen zum Rücktritt gedrängt wurde. Es gehe auch darum, „politische Verantwortung“ für Fehler zu übernehmen, die im eigenen Verantwortungsbereich passierten, hatte Scholz damals gesagt. Offenbar hat Grote daraus nichts gelernt. SPD-Sozialsenator Detlef Scheele soll ziemlich die Stirn gerunzelt haben, als er von dessen Äußerung hörte. Scheele selbst will zu dem Fall gar nichts sagen, bevor – frühestens im Januar – die Ergebnisse der Jugendhilfeinspektion vorliegen.

Auch der Bürgermeister hält sich bedeckt. Auf die Frage, ob er sich wie nach dem Tod Chantals auch jetzt wieder persönlich einschalte, sagte Scholz lediglich: „Die Aufarbeitung des Todesfalls läuft. Niemand geht über den Tod des Kindes zur Tagesordnung über.“

Übersetzt: Scholz hat das Thema fest im Blick. Bezirksamtsleiter Andy Grote sollte das eine Warnung sein.