Das Jugendamt Mitte hatte entschieden, das kleine Mädchen den Eltern zurückzugeben, das an einem Leberriss innerlich verblutete. Die Chronologie einer Tragödie.

Hamburg. Drei Tage nach dem tragischen Tod der dreijährigen Yagmur Y. („Yaya“) aus Billstedt spitzt sich der Fall auf zwei entscheidende Fragen zu: Wer hat warum entschieden, dass das Mädchen im Sommer 2013 wieder zurück zu seinen leiblichen Eltern kommt? Und: Wurde dies gemacht, obwohl das Jugendamt Eimsbüttel genau davon dringend abgeraten hatte? Mitte-Bezirksamtsleiter Andy Grote (SPD), dessen Jugendamt zu diesem Zeitpunkt zuständig war, äußert sich dazu nicht. Er verweist darauf, dass die Jugendhilfe-Inspektion nun bezirksübergreifend ermittele. „Wir unterstützen die Arbeit, müssen aber das Ergebnis abwarten“, sagte Grote auf Nachfrage. Wann das Ergebnis vorliegt, ist völlig offen.

Andy Grote steht unter Druck. Nach Lara Mia und Chantal ist Yaya bereits das dritte Kind, das in den vergangenen Jahren unter der Obhut des Jugendamts Mitte ums Leben kam. Bereits Grotes Vorgänger Markus Schreiber musste nach dem Tod Chantals und dem politischen Umgang mit der Tragödie zurücktreten.

Jeden Tag werden neue Details dieser traurigen Geschichte bekannt. Und trotz vieler Widersprüche und Unklarheiten wird eines immer deutlicher: wie sehr die kleine Yaya in ihrem viel zu kurzen Leben gelitten hat.

Nach der Geburt im Oktober 2010 kommt die erst wenige Tage alte Yaya zu der Pflegemutter Ines M. in Rotherbaum, weil sich die leibliche Mutter Melek Y. überfordert fühlt. Sie hat zu diesem Zeitpunkt bereits einen drei Jahre alten Sohn von einem anderen Mann. Der Junge lebt bei ihren Eltern zur Pflege. Von Anfang an ist aber eine Rückführung von Yaya in ihre Familie geplant. Deshalb hat Melek Y. regelmäßig Kontakt zu ihrer Tochter, nach Informationen des Abendblatts ein- bis zweimal die Woche. Der Kontakt bleibt auch, als die Mutter im September 2011 für ein gutes Jahr in eine Obdachlosenunterkunft in Eimsbüttel zieht.

Bereits 2011 und 2012 gibt es jedoch immer wieder Vorfälle, bei denen blaue Flecken darauf hinweisen, dass Yaya möglicherweise Gewalt angetan wird. Sowohl Melek Y. als auch die Pflegemutter Ines M. haben gegenüber dem Jugendamt und den Ärzten aber immer plausibel klingende Erklärungen dafür. Und auch die Ärzte selbst sollen jedes Mal bestätigt haben, dass die blauen Flecken unter normalen Umständen zustande gekommen sein können.

Im Dezember 2012 haben Yaya und ihre leiblichen Eltern intensiveren Kontakt, da nun die Rückführung des Kindes zu seinen Eltern ins Auge gefasst wird. Begleitet wird die Familie von einer Mitarbeiterin des Jugendamts Eimsbüttel. Formell ist das Jugendamt Mitte seit einem Monat zuständig, da Melek Y. in eine Wohnung im Bezirk Mitte gezogen ist. Doch die bisherige Jugendamtsmitarbeiterin ist mit dem Fall gut vertraut und entscheidet zum Wohle des Kindes, sich weiter um die Familie zu kümmern.

Kurz nach Weihnachten wird das Mädchen krank. Vom 28. bis zum 30. Dezember ist Yaya mit Verdacht auf eine Bauchspeicheldrüsenentzündung im Altonaer Kinderkrankenhaus. Doch die Ärzte können die Ursache nicht finden. Keiner der Ärzte soll in der Krankenakte vermerkt haben, dass es Verletzungen gibt, die auf Misshandlung hinweisen. Am 6. und 7.Januar 2013 ist die Kleine erneut im Krankenhaus. Die Jugendamtsmitarbeiterin vermutet, dass das Kind nicht richtig isst und trinkt, weil es mal bei ihrer Pflegemutter und mal bei seinen leiblichen Eltern wohnt. Sie brauche Kontinuität. Deshalb kommt Yaya am 13.Januar zu ihren Eltern, ein Rückführungsversuch wird gestartet. Am 21.Januar wird das Pflegeverhältnis mit Ines M. aufgelöst, weil sich Yaya scheinbar gut eingelebt hat.

Wie schlecht es Yaya wirklich geht, kommt am 28.Januar ans Licht. Die Mutter bringt sie ins Kinderkrankenhaus, weil sie schielt. Erst nach mehreren Untersuchungen stellen die Ärzte fest, dass Yaya schwerste Schädelverletzungen hat, die vor mehr als einem Jahr entstanden sein sollen. Yaya muss notoperiert werden. Zudem entdecken sie einen Riss in der Bauchspeicheldrüse, der durch einen Tritt oder einen Schlag entstanden sein könnte. Klaus Püschel, Leiter der Rechtsmedizin, der Yaya untersucht hat, erstattet Anzeige. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Das Jugendamt in Eimsbüttel entscheidet, Yaya in staatliche Obhut zu nehmen, da sowohl die Pflegemutter als auch die Eltern das Kind verletzt haben könnten.

Kurz darauf soll sich die Pflegemutter Ines M. gemeldet haben. Sie gibt an, Yaya in der Vergangenheit geschüttelt zu haben, und schildert den Vorfall minutiös. Dies wird auf behördlicher Seite als Entlastung für die leiblichen Eltern gewertet. Doch die Staatsanwaltschaft glaubt nicht, dass Ines M. die Verletzungen verursacht hat. Ihre Schilderungen passen nicht zu den Verletzungen.

Am 6.Februar bringt die Jugendamtsmitarbeiterin Yaya in das Kinderschutzhaus in Altona. Im Mai beantragt die leibliche Familie über das Familiengericht die Beendigung der Inobhutnahme der Tochter und die Rückführung in die Familie.

Geplant ist jedenfalls, dass das Jugendamt Eimsbüttel den Fall Yaya den Kollegen im Bezirk Mitte offiziell zum 1.Juli übergibt. In den Wochen zuvor gibt es mehrere Gespräche zwischen den Jugendamtsmitarbeitern. In einem wichtigen Punkt gibt es aus Behördenkreisen allerdings unterschiedliche Angaben. Im Mai, so heißt es, soll das Jugendamt Eimsbüttel der Rückführung Yayas zu ihren Eltern zugestimmt haben. Andererseits wird gesagt, das Jugendamt Eimsbüttel habe bei der Übergabe an Mitte grundsätzlich abgeraten und davor gewarnt. Begründung: Die staatsanwaltlichen Ermittlungen sollten abgewartet werden.

Ende Juli gibt es dann nach Abendblatt-Informationen Einvernehmen zwischen dem Jugendamt Mitte, dem Familiengericht und der Familie darüber, dass Yaya wieder zu ihren Eltern zurückkehrt. Dazu kommt es am 2. August. Die Eimsbütteler haben mit dem Fall nun nichts mehr zu tun.

Im Anschluss soll die Familie alle freiwilligen sozialpädagogischen Familienhilfen, die sie zuvor auf eigenen Wunsch erhalten hatten, beendet haben. Das Jugendamt nimmt daraufhin Kontakt zu der Familie auf. In welchen Abständen, ist völlig unklar. Den Mitarbeitern fällt auf, dass Yaya nach einiger Zeit nicht mehr in die Kita kommt. Auf Nachfrage heißt es seitens der Familie, dass man die Bindung zum Kind zu Hause intensivieren wolle. Als die Mutter ein anderes Mal nicht erreichbar ist, schauen Mitarbeiter des Kinder- und Jugendnotdienstes in der Familie vorbei. Angeblich ist alles in Ordnung.

Den letzten Besuch vom Jugendamt gab es vor mehreren Wochen. Die Mitarbeiter treffen Yaya mit ihrer Mutter an. Erneut habe es keine Auffälligkeiten gegeben.

Am 18.Dezember stirbt Yaya in der Billstedter Wohnung an den Folgen eines Leberrisses. Wie die Staatsanwaltschaft bestätigt, hat Melek Y. mehrere blaue Flecken am Körper ihrer Tochter vor dem Eintreffen der Rettungskräfte am Mittwochmorgen übergeschminkt – offenbar um die Spuren früherer Gewaltakte zu vertuschen.

Die Frau wird wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen verhaftet. Yayas Vater Hüseyin Y. sitzt auch in Untersuchungshaft: Ihm wird Totschlag vorgeworfen.