Millionen warten auf Hilfe - und reiche Touristen fahren auf Kreuzfahrt nach Haiti. Die Reederei spendet allerdings für die Erdbebenopfer.

Hamburg. Von „sandigen Stränden und Korallenriffen“ ist die Rede, einem „perfekten Ort zum Relaxen und Spaß haben“. Sogar mit einer „atemberaubenden Kulisse“ wird geworben.

Dass die US-Reederei Royal Caribbean International (RCI) dies auch jetzt noch ausgerechnet in Haiti verspricht, dem von einem verheerenden Erdbeben zerstörten Karibikstaat, erscheint geradezu zynisch. Während Haitis Hauptstadt Port-au-Prince im Chaos versinkt, existiert in Labadee an der von der Naturkatastrophe weitgehend verschonten Nordküste der Insel offenbar noch die „heile Welt“. Im Internet jedenfalls verspricht das Kreuzfahrtunternehmen Royal Caribbean seinen Kunden auch wenige Tage nach dem Beben noch das „private Paradies“.

Mehrmals wöchentlich steuern RCI-Luxuskreuzer mit gut betuchten Touristen an Bord den gepachteten Strand für einige Stunden an. Die bekommen von der seit Jahren durch Gewalt und Armut gebeutelten Insel in Labadee nicht viel zu sehen: Ein hoher Zaun und bewaffnete Sicherheitskräfte sorgen dafür, dass Kreuzfahrt-Gäste in der malerischen Atlantikbucht ungestört schnorcheln, Jetski fahren und Cocktails genießen können.

Royal Caribbean sieht keinen Grund, die Haiti-Reisen nach dem verheerenden Erdbeben auszusetzen. Im Gegenteil, ein Fernbleiben würde Haiti eher schaden, meinen die Betreiber. „Auf die Insel zu kommen und die Wirtschaft anzukurbeln (...) hilft, wegzubleiben hilft nicht“, schreibt RCI-Chef Adam Goldstein im Blog „www.nationofwhynot.com/ blog“. Zudem werde der Norden Haitis einen großen Teil der Last des Südens zu tragen haben – eine finanzielle Unterstützung durch Tourismus helfe daher allen. Goldstein meint:„Wir sorgen für die Unterhaltung unserer Gäste – welche wiederum in Labadee nachhaltig helfen.“ Auch Leslie Voltaire, ein Abgesandter der haitianischen Regierung bei der UN, lobte noch vor wenigen Tagen die „positiven wirtschaftlichen Nutzen“ der Kreuzfahrtschiffe für das Land.

Dreimal machen die Ozeanriesen von Royal Caribbean allein in dieser Woche Halt in Labadee, nur wenige Kilometer von der Hafenstadt Cap-Haitien entfernt. Am Montag ging „Navigator of the Seas“ vor Anker, am Dienstag folgte „Liberty of the Seas“. Am Freitag wird „Celebrity Solstice“ des ebenfalls zu RCI gehörenden Unternehmens Celebrity Cruises Haiti ansteuern. Jedes dieser Schiffe bietet rund 3000 Gästen Platz, die „Liberty“ sogar 3600. Wie viele Passagiere in dieser Woche an Bord sind, teilte RCIauf dpa-Anfrage nicht mit, auch nicht, ob es nach dem Erdbeben Stornierungen gegeben habe.

Mit an Bord führen die Schiffe seit voriger Woche auch etwa sechs LKW-Ladungen Hilfsgüter wie Trinkwasser, Brot, Reis und Milchpulver, die auf direktem Weg in die Krisenregionen um das rund 260 Straßenkilometer entfernte Port-au-Prince gebracht werden sollen. Außerdem teilte RCI mit, eine Million Dollar an Hilfsorganisationen zu spenden. Auch die Gäste werden aufgefordert, mit Geld zu helfen.

Obwohl die Reederei am Reiseziel Labadee festhält, scheint manchen Kreuzfahrtkunden ein mulmiges Gefühl zu beschleichen, wie in Internetforen zu lesen ist. Ein Gast bemerkte beispielsweise: „Ich kann mir nicht vorstellen, in der aktuellen Situation einen Hamburger runterzuschlucken.“ Ein anderer Passagier schrieb, er könne nicht am Strand in der Sonne liegen, im Wasser spielen oder einen Cocktail genießen, während wenig weiter „Zehntausende von Toten auf den Straßen gestapelt werden und Überlebende um Essen und Wasser kämpfen“.

Eine Woche nach dem vernichtenden Erdbeben wird das ganze Ausmaß der Katastrophe immer deutlicher. Tausende Verletzte warten in der verwüsteten Hauptstadt Port-au-Prince und anderen zerstörten Regionen weiter verzweifelt auf erste medizinische Versorgung. Hilfs- und Ärzteteams arbeiten bis zur völligen Erschöpfung rund um die Uhr. Oft werden Patienten auf offener Straße behandelt. Viele haben lebensbedrohliche Wundinfektionen. Die Tausenden internationalen Helfer und Soldaten kommen in der Trümmerstadt Port-au-Prince nur langsam und schwer voran. Leichen werden in Massengräbern beigesetzt.

Viele Verletzte schleppen sich mit letzter Kraft in die inzwischen eingerichteten, aber völlig überfüllten Notfallzentren. „Es sind überwiegend Knochenbrüche, zerquetschte Gliedmaßen, offene Wunden. Und eine Woche nach dem Beben sehen die Wunden auch entsprechend aus; die sind verschmutzt, die sind groß, die sind infiziert – das sind keine glatten Schnitt- oder Bruchwunden. Das kann nicht mehr genäht werden. Wir reinigen und desinfizieren“, sagte die aus Mosbach bei Heidelberg stammende Krankenschwester Elke Felleisen.

Immer wieder gibt es aber auch Lichtblicke im Chaos: So meldeten israelische Helfer, dass sie nach sechs Tagen eine Studentin lebend bergen konnten. Die junge Frau wurde aus den Trümmern der Universität in Port-au-Prince befreit. Mit Spezialgeräten sei es gelungen, eingestürzte Gebäudeteile anzuheben und so eine Öffnung zu schaffen. Das Rettungsteam habe sie dann zur Behandlung in ein israelisches Feldlazarett gebracht. Allerdings sind dies Einzelfälle. Viele Haitianer wissen auch eine Woche nach dem Unglück nicht, wo ihre Familien und Freunde sind.

Unter den Vermissten sind auch acht Deutsche. Bisher wurde ein Deutscher tot unter den Trümmern gefunden. Berichte über ein zweites deutsches Opfer wurden in Regierungskreisen nicht bestätigt. Eine geborgene Frau aus München sei keine Deutsche gewesen, hieß es.

Bis Dienstag hatten 52 Rettungsteams mit 1820 Helfern und 175 Hunden nach UN-Angaben insgesamt rund 90 Menschen lebend gerettet. Vereinzelt gab es weiter Meldungen über Plünderungen und gewalttätige Übergriffe mit Schießereien. Doch beschrieb die Sprecherin des UN- Koordinationsbüros für humanitäre Hilfe (OCHA), Elisabeth Byrs, die Lage insgesamt als „angespannt, aber ruhig“. „Die Bevölkerung kooperiert. Die Lage ist unter Kontrolle“, sagte sie. Die Vereinten Nationen entsenden 3500 weitere Soldaten und Polizisten in das Erdbebengebiet, beschloss der Sicherheitsrat am Dienstag einmütig. „Dieses Kontingent setzt sich aus 1500 Polizisten und 2000 Soldaten zusammen. Sie sollen für Frieden und Sicherheit sorgen und beim Aufbau helfen“, erklärte Chinas UN-Botschafter Zhang Yesui als derzeitiger Präsident des Gremiums in New York.

Die Zahl der Toten nach dem Beben der Stärke 7,0 könnte nach Schätzungen der haitianischen Regierung auf 200.000 steigen. Nach Angaben von EU-Katastrophenhelfern wurden bis Montag 70.000 Tote bestattet. 250.000 Menschen seien verletzt, rund 1,5 Millionen obdachlos geworden.

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