Die Menschen in Haiti haben ihre Welt verloren. Ein Weg zurück in die Normalität scheint im Moment nur sehr schwer vorstellbar.

Port-au-Prince. Was kann schon in 35 Sekunden passieren? Einen Kaffee einschenken, ein paar Schuhe anziehen, vielleicht ein kurzes Haarekämmen. In Haiti hat es nur 35 Sekunden gedauert, und die Haitianer hatten ihre ganze Welt verloren - unwiederbringlich. Seit dem starken Erdbeben der vergangenen Woche sind die Menschen in Haiti zerbrochen - und nicht in der Lage, sich auch nur vorzustellen, wie der Weg zurück in Normalität oder Wiederaufbau auch nur aussehen könnte. Ihre Gegenwart ist kaum zu ertragen; ihre Zukunft scheint zu schrecklich und zu weit weg, um nur darüber nachzudenken. Und die Vergangenheit? Die Haitianer haben bereits Diktatoren, politische Unruhen und Wirbelstürme überlebt, aber selbst sie sagen, dass die Grenzen jetzt überschritten sind: Mehr können Menschen nicht aushalten.

Aus der Hauptstadt Port-au-Prince ist eine Stadt aus Schutt und Zelten geworden, in der Hunderttausende, die alles verloren haben, auf den Straßen leben ohne Wasser, ohne Toiletten, ohne Essen. Manche haben etwas Luxus, und das ist dann die Plastikfolie über ihren Köpfen. Andere schlafen ganz ohne Schutz, nur den Himmel über sich. An den Nachmittagen versuchen die Menschen, sich am Straßenrand zu waschen, ohne Scham oder Schutz. Nachts legen sie sich hungrig zum Schlafen hin, unsicher, ob sie am nächsten Tag wieder aufwachen werden. Und wenn sie es tun, ist der nächste Tag genauso schrecklich. In vielen Ecken von Port-au-Prince treffen sich die Bewohner nach Einbruch der Dunkelheit in den Ruinen der Kirchen und beten und singen bei Kerzenlicht. Es ist ein Bild seltsamer Schönheit inmitten all des Leidens in Haiti. Kirche über Kirche ist zerstört, doch irgendwie scheint das Kreuz immer stehengeblieben zu sein - ein einsames Hoffnungszeichen oder auch ein Symbol, dass den Haitianern außer Glauben nichts übriggeblieben ist.

"Es ist alles vorbei"

Der einst majestätische Präsidentenpalast ist eingestürzt. Eine Flagge auf Halbmast wirft ihren Schatten auf die grünen Wiesen, die nun vom Staub der zerstörten Gebäude zugedeckt sind. Die Regierung exisiert praktisch nicht. „Nach dem 11. September kam (der damalige US Präsident) Bush und hat zu seinen Leuten gesprochen und ihnen gesagt, sie sollten stark sein. Und was hat (Haitis Präsident Rene) Preval gemacht? Gar nichts“, sagt Jean Louis Evens, der vor dem Erdbeben Schneider war. „Preval hat nur gesagt, dass auch die Regierung gelitten hat. Was sollen die Leute mit solchen Erklärungen von ihm anfangen? Er ist nicht rausgekommen und hat nicht zu seinem Volk gesprochen“, sagt er. Worte wie „zerstört“, „verwüstet“ und „vernichtet“ haben all ihre Bedeutung in Haiti verloren. Die Menschen hier sagen nur: „Es ist alles vorbei.“

In Port-au-Prince ist es nicht auszuhalten. Der Gestank von Tod ist in manchen Teilen der Stadt so erdrückend, dass man kaum atmen kann. Es ist ein Geruch, der in die Körper der Lebenden kriecht und scheinbar nicht wegzubekommen ist. Masken oder andere Gesichtsbedeckungen sind ein kostbares Gut und selten zu bekommen. Mit geschätzten 200 000 Toten und fast einer Million Verletzter droht die Hauptstadt zusammenzubrechen. Die internationale Hilfe erscheint vergleichsweise nur wie eine Krücke egal, ob es US-Truppen sind, die nun durch die Straßen patrouillieren, taiwanesische und mexikanische Rettungsteams, die Deutschen und Polen, die Hilfsmittel verteilen, oder die Ärzte aus Indien und Israel, die medizinischen Notdienst leisten. Nichts ist mehr, was es war, in Haiti. Und Port-au-Prince ist eine Stadt der Extreme geworden. Von ihrer eigenen Regierung verlassen, heißen die Haitianer die ausländische Hilfe willkommen, doch sie wollen sie auch zu ihren eigenen Bedingungen.

„Wir sind sehr arm, aber wir sind auch ein sehr stolzes Land und Volk“, sagt Alia Louis, ein Rettungsarbeiter. „Wir brauchen Hilfe ganz verzweifelt, aber wir brauchen auch Respekt. Die Ausländer trampeln hier über uns und sagen, was wir tun und lassen sollen. Und wir sollen die Klappe halten und zuhören, weil wir jenes arme karibische Land in der letzten Ecke der Welt sind. Keiner fragt uns, was wir wollen. Keiner hat uns jemals gefragt, was wir wollen“, sagt er. Die Menschen in Haiti schwanken hin und her, zwischen Verzweiflung und dem Versuch, weiterzumachen, zwischen Taten unvorstellbarer Gewalt und Taten unvorstellbarer Güte, zwischen dem Optimismus der Straßenverkäufer, die aus allem etwas machen, und dann wieder der Hoffnungslosigkeit, die über allen liegt, Da ist der Verlust an Menschenwürde, die sich in den vielen Abladeplätzen für die verfallenden Leichen zeigt. Immer noch schafft es Haiti nicht, sich um die Toten und die Lebenden zu kümmern.

Haiti schafft es nicht, sich um die Toten und die Lebenden zu kümmern

Am Nationalfriedhof, dem größten von Port-au-Prince, häufen sich weiter unzählige Leichen im Freien, abgelegt zwischen Krypten und Kreuzen, in der Hitze rottend, von Fliegen bedeckt, manche mit zusammengebundenen Händen und Füßen, daraus sickernd Rinnsale von Blut, Eiter und Fäkalien. „Dies ist das Ende der Welt“, sagt Elmond Chere, der Friedhofswärter. „Wir sind geliefert.“ Ein Friedhof eigentlich sollte er Ruhe ausstrahlen, Würde, und einen sanften Übergang in eine andere Welt, am Ende eines Lebens, das hoffentlich ein gutes war. Aber nicht in Haiti: Hier scheint jeder Sinn für Anstand vom Erdbeben verschluckt worden zu sein.

Hunderte von Überlebenden versuchen, jede auch nur irgendwie befahrbare Straße zu nutzen, um irgendwie aus Port-au-Prince herauszukommen - weg, nur weg. Allein der Auszug aus der Erdbebenzone verspricht vielleicht doch noch die Hoffnung auf einen Neuanfang. Sie reisen zu Fuß, per Bus, Laster, mit den allgegenwärtigen Tap- taps, teilen sich Taxis und haben im Gepäck, was immer das Erdbeben übrig gelassen hat. Eine Kolonne, die sich Richtung Stadtrand zieht und dort auf Busse in Richtung Cap Haitien zur Nordküste wartet. Die Privilegierteren, die einen amerikanischen Pass haben, drängen sich im Flughafen, um den ersten Flug zu erwischen. Sie würden gerne eines Tages zurückkommen, sagen die meisten, aber: Wird denn etwas da sein, wohin sie zurückkommen können? Manche Haitianer glauben, es könnte Jahrzehnte - wenn nicht ein Leben lang - dauern, bis Haiti wieder aufgebaut ist. Esther Pierre, 19-jährige Politikstudentin, hat vor, sich nach Haitis Provinzen durchzuschlagen. „Aus Port-au-Prince rauszukommen wird nicht einfach sein - aber da wird man den Tod nicht so spüren. Die Luft ist klarer“, sagt sie. „Ich weiß im Moment nicht genau, was ich tun werde, mein Kopf ist voll. Ich weiß nicht, was ich tun werde, denn es ist auch kein Geld da.“

„Die Haitianer sind nicht gewaltsam sie sind nur hungrig"

Da ist Wut und schiere Frustration, die sich seit dem Erdbeben in Gewalt entlädt. In Centreville, einer der ärmsten Gegenden von Port- au-Prince, wo das Erdbeben wenig stehengelassen hat, hat Wawa die dunkelsten Seiten von Haiti gesehen. Der 38-jährige ehemalige Bandenführer war oft selbst daran beteiligt, und noch heute hat er großen Einfluss in diesem brodelnden Teil der Stadt. Auch wenn er es nicht akzeptiere, er könne die Gewalt und die Plündereien verstehen, die wie Nachbeben auf das Erdbeben folgten, sagt er. „Die Situation ist so schlecht, die Leute haben nichts zu essen, also sind sie zum Plündern fast gezwungen“, sagt er. „Aber sie tun es nicht aus Bosheit. Sie brauchen einfach was zu Essen.“ Haitis Schlagzeilen beschreiben ein Land, das außer Kontrolle geraten ist, aber erklären nicht die Gründe oder Zusammenhänge, meint Wawa, der mit Haitis Gewalt über Jahre gelebt hat. Hunderte von Kriminellen, die aus den zusammengestürzten Gefängnissen entkommen und nun wieder in die Slums zurückgekehrt sind, tun ihr übriges, damit die Stadt nicht zur Ruhe kommt. „Dies sind Vendettas, das sind keine zufälligen Gewaltangriffe“, sagt Wawa. Vigilante-Gruppen kämpften gleichzeitig gegen die entkommenen Bandengangster, um die Stadtviertel zu schützen. Es gibt auch Beobachter, die die eskalierende Gewalt in Haiti keineswegs für außergewöhnlich halten. „Ich finde nicht, dass Port- au-Prince gewaltsamer ist als Städte wie zum Beispiel Rio (de Janeiro)“, sagt ein Rettungsarbeiter aus den USA. „Hier sind nicht nur katastrophal viele Menschen ums Leben gekommen. Diese Menschen haben auch alles verloren, was ihnen half, irgendeinen Sinn in der Welt zu sehen. Wir reden immer über die Toten, sicherlich, aber wir machen uns nicht klar, wie sehr Obdach- und Arbeitslosigkeit und die Aussicht auf weder ein Dach über dem Kopf noch Arbeit die Menschen abstumpfen kann.“ „Die Haitianer sind nicht gewaltsam sie sind nur hungrig. Wir sind hierhingekommen, um ihnen Essen zu bringen“, sagt er. Doch der Hunger wächst, je länger die Hilfsgüter die Überlebenden nicht schnell genug erreichen.

Alles ist gegen Geld erhältlich, aber die meisten Bewohner haben sämtliches Geld zwischen Schutt und Asche verloren. Tausende Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sind inzwischen in Haiti, um zu helfen. Ein Team des israelischen Militärs baute nach einem 15-Stunden-Flug innerhalb von acht Stunden das größte Notkrankenhaus in Port-au-Prince auf. Unter den 220 Soldaten sind 40 Ärzte; in Zelten untergebracht gibt es Operationssaal, Labor, orthopädische und pädiatrische Kliniken. Das Krankenhaus, in dem die Ärzte im Schichtwechsel rund um die Uhr operieren, soll wenigstens einen Monat lang in Haiti bleiben, sagt Oberst Kreiss Yikshak. Mit dabei sind auch Psychiater, um den selbst erschöpften Ärzten in der Betreuung der Überlebenden zu helfen. Vergangene Katastrophen wie der asiatische Tsunami von 2004 haben gezeigt, dass die Überlebenden oft schwere seelische Wunden davontragen. Die Israelis können rund 500 Leute am Tag behandeln, sofern es nicht nur Schwerverwundete sind. „Wir kennen unsere Fähigkeiten. Wir können die Welt nicht retten. Wir können dieses Land nicht retten“, sagt Oberstleutnant Tarif Bader, der Chef der Pädiatrischen Klinik. Immerhin: Für die Rettungsaktion Haiti gab es mehr Freiwillige als die Israelis nach Haiti bringen konnten, sagen die Soldaten.

Was kommt nach der ersten Hilfe?

Die meisten Haitianer sind mehr als dankbar für die internationale Hilfe, doch ein Bewohner der Hauptstadt sagte auch: „Jeder will uns helfen, denn keiner will uns haben.“ Weder Haitianer noch die Mitglieder der internationalen Hilfsteams wagen laut zu fragen, wie Haiti langfristig überleben soll und ob es das überhaupt kann. Was kommt nach der ersten Hilfe, der ersten medizinischen Versorgung, der ersten Aufräumarbeit, dem ersten Kampf gegen die Gewalt? Wenn die Ausländer wieder weg sind? Wenn die Aufmerksamkeit zur nächsten Katastrophe wandert? Port-au-Prince ist kein Kriegsgebiet, doch das Stadtzentrum mutet zuweilen an wie Gaza oder Beirut. Die Straßen sind übersät mit Patronenhülsen. Die Zerstörung wirkt wie nach tagelangem Dauerbombardement. „Wie finden es gut, dass die US-Truppen hier sind, aber warum patrouillieren hier so viele Soldaten in diesen riesigen Wagen? Dies ist keine Kriegszone“, sagt Marie Esther, eine der vielen Obdachlosen. „Wir brauchen Essen, Wasser, Häuser und Arbeit. Wir brauchen nicht noch mehr Gewehre. Haiti hat genug Gewalt gesehen, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Jedes Mal, wenn wir glauben, dass es besser wird, passiert etwas Schreckliches.“ Es gibt fast zwei Millionen Geschichten aus Port-au-Prince, eine für jeden der Bewohner: Geschichten von Verlust, Sehnsucht, Angst, Hoffnung und Zuversicht. Seit dem Erdbeben kreisen sie alle um dieselbe Frage: Wie durch den Tag kommen, die nächsten zwölf Stunden, bis wieder die Nacht einsetzt und die Gebete beginnen.