Mit einer bärenstarken Vorstellung hat der 24-jährige Marcel Nguyen den zweiten Platz belegt. Fabian Hambüchen wird schwacher 15.

London. Favorit Fabian Hambüchen patzte, dafür verblüffte Außenseiter Marcel Nguyen an einem historischen Abend. Mit seinem sensationellen zweiten Platz ist der Barren-Europameister aus dem Schatten des Turn-Champions getreten und hat bei den Olympischen Spielen in London dank einer unglaublichen Aufholjagd die erste Medaille eines deutschen Mehrkämpfers seit 1936 geholt. „Ich bin überwältigt. Das ist ein Riesengefühl, hier mit einer Medaille zu stehen. Ich habe mich nicht verrückt machen lassen“, erklärte der neue Turn-Held mit einem breiten Grinsen und präsentierte stolz sein Silber.

76 Jahre nach dem Olympiasieg von Alfred Schwarzmann in Berlin lieferte der 24 Jahre alte Unterhachinger am Mittwoch vor 16 500 Zuschauern in der ausverkauften North Greenwich Arena den Wettkampf seines Lebens. Mit 91,031 Zählern musste er nur dem haushohen Favoriten Kohei Uchimura (92,690) aus Japan den Vortritt lassen. Bronze ging an den US-Amerikaner Danell Leyva mit 90,698 Zählern. Hambüchen stürzte dagegen nach drei schweren Schnitzern auf Rang 15 ab und turnte mit 87,765 Punkten noch drei Zähler weniger als in der Qualifikation.

„Ich kann es nicht ändern, ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich bin jetzt fit und stecke den Kopf nicht in den Sand“, sagte Hambüchen total enttäuscht und meinte fast trotzig: „Das ist nicht das Ende.“ Die vermeintliche Wachablösung im deutschen Turnen wollte er zunächst nicht kommentieren.

Nguyen war berauscht. Völlig ungläubig rannte er nach seinem Coup in die Arme von Cheftrainer Andreas Hirsch. Als das Ergebnis auf der Anzeigetafel zu sehen war, nahm ihn sein Heimcoach Waleri Belenki auf die Schulter. Nguyen schaute fassungslos in die Menge und ballte die Fäuste. „Beim Training musste ich ihn in den Hintern traten. Heute hat alles geklappt“, erzählte Belenki. Verbandspräsident Rainer Brechtgen lobte vor allem die Coolness des Silbermedaillengewinners: „Ich bewundere die Nervenstärke von Marcel, wie er als letzter Turner bei diesem Lärm in der Halle die Nerven behalten hat.“

Nguyen war mit dem Vorhaben angetreten, nicht auf die Konkurrenz zu schauen und sich allein auf seine sechs Geräte zu konzentrieren. Der Bayer startete mit dem letzten Platz am Seitpferd nur mäßig in die Konkurrenz, steigerte sich aber von Gerät zu Gerät und bewies bei seinen schwierigen Übungen am Barren und Reck Nervenstärke. Immer näher kämpfte er sich an die Podestplätze heran. Vor dem abschließenden beiden Durchgängen rangierte er überraschend auf dem dritten Platz. Als letzter Turner der Konkurrenz krönte er schließlich seine überragende Leistung mit einer Supershow am Boden.

Nachdem im Vorfeld der Spiele die gesamte mediale Aufmerksamkeit auf Hambüchen und Vizeweltmeister Philipp Boy gerichtet war, ging Nguyen ruhig und beharrlich seinen lange unbemerkten Weg. Für die einzigen Schlagzeilen hatte er im Mai mit dem Gewinn seines zweiten EM-Titels am Barren gesorgt.

Für Hambüchen begann der wichtigste Wettkampf seiner Karriere nach fehlerfreiem Durchgang am Boden mit einem krassen Fehler bei der Schere in den Handstand am Pferd, der von den Kampfrichtern hart bestraft wurde. Ein Protest der Mannschaftsleitung wurde von der Jury abgelehnt. Platz 22 im Zwischenklassement war die Folge. Zwar gaben sich Freundin Caroline, Vater Wolfgang und Onkel Bruno Hambüchen die größte Mühe, ihn ständig mit „Faaaabi“-Rufen anzutreiben, doch der Mitfavorit zeigte erstmals während der London-Spiele Schwächen.

Kurz suchte er vor dem Sprung den Blickkontakt zum Vater im Zuschauer-Block 105 der Arena. Man sah ihm im Gesicht an, wie sehr er vor seinen starken drei Geräten unter Druck stand. Nach dem Sturz beim Jurtschenko am Sprung war der Wettkampf für ihn faktisch gelaufen. Nach der Ernüchterung muss Hambüchen jetzt seine ganze Konzentration auf das Reckfinale am kommenden Dienstag legen.

(abendblatt.de/dpa)