Gegen Tour-Sieger Bradley Wiggins war kein Kraut gewachsen. Er war 42 Sekunden schneller. Judith Arndt holt bei den Frauen Silber.

London. Der Kampf gegen den Schmerz hat sich gelohnt, die wochenlange Quälerei war nicht umsonst. Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin, seit dem Bruch des Kahnbeins in der linken Hand stark beeinträchtigt, holte sich in seiner Spezialdisziplin sensationell die olympische Silbermedaille. Der 27-jährige Wahlschweizer musste sich am Mittwoch in London nur dem überragenden britischen Tour de France-Gewinner Bradley Wiggins beugen, der am Ende rund 40 Sekunden Vorsprung hatte. „Tony ist in der Form seines Lebens. Nach allem, was in der Saison vorgefallen ist, war seine Leistung fantastisch“, sagte der deutsche Teamchef Jan Schaffrath.

„Das zeigt, was wir für hervorragende Athleten haben“, freute sich Verbandspräsident Rudolf Scharping mit Martin und Judith Arndt, die sich zuvor ebenfalls Silber gesichert hatte. Damit entschädigten die beiden Zeitfahr-Spezialisten die deutschen Rad-Fans, die nach dem Straßenrennen ohne Medaillen enttäuscht waren. Im Ziel setzte sich Martin völlig erschöpft erst einmal mal in den Schatten der Streckenbegrenzung – genau wie nach seinem ersten Tour-Etappensieg 2011 in Grenoble. Neben ihm ruhte sich kurz Wiggins aus, bevor seine unendliche Gratulationscour begann.

Die Bühne vor dem königlichen Hampton Court Palace hatte am Mittwoch dem ersten britischen Tour-de-France-Sieger der Sport-Geschichte gehört: Wiggins sicherte sich Gold in einer Triumphfahrt durch das dichte Spalier Hunderttausender Zuschauer. Der Brite schwang sich mit seinem Sieg in 50:39 Minuten über 44 Kilometer zum erfolgreichsten Olympia-Starter seines Landes auf. Mit insgesamt sieben Medaillen überflügelte er Ruderer Sir Steve Redgrave.Die Startnummer zwei täuschte – Wiggins war im Hampton Court unumstritten die Nummer eins. Er verzückte seine Landsleute nach seiner Triumphfahrt über die Champs Elysées vor zehn Tagen erneut.

Der 32-jährige Brite ließ auch Fabian Cancellara auf Rang sieben keine Chance. Der Schweizer Olympiasieger der Spiele von Peking ging nach seinem Sturz im Straßenrennen ähnlich gehandicapt wie Martin ins Rennen über den fast schnurgeraden Parcours, der nur wenige Schwierigkeiten aufwies. Er war auf die im April nach einem vierfachen Schlüsselbeinbruch operierte Schulter gestürzt und krümmte sich am Mittwoch nach dem Rennen schmerzverzerrt auf dem Asphalt. Bronze ging an Wiggins’ Teamkollegen Christopher Froome. Der umstrittene Straßen-Olympiasieger Alexander Winokurow hatte mit dem Ausgang des Rennens in 57:37 Minuten nichts zu tun. der zweite deutsche Starter, Ex-Weltmeister Bert Grabsch wurde Achter.

Manche der Zuschauer hatten sich zum Spaß Koteletten aus Papier an die Wangen geklebt – die beiden britischen Boulevard-Zeitungen „Sun“ und „Mirror“ hatten sie am Mittwoch zum Ausschneiden im Angebot. Sie sollten an den markanten Gesichtsschmuck von Wiggins erinnern. Der Olympiasieger schüttelte vor der Siegerehrung vor dem Palast Heinrichs des VIII. immer wieder ungläubig den Kopf und winkte seinen Fans zu. Dann stieg er aufs oberste Treppchen und war am Ziel seiner sportlichen Träume. Olympia- und Toursieger – mehr geht nicht.


Judith Arndt holt Silber im Zeitfahren der Frauen

Judith Arndt biss auf die Zähne, holte alles aus sich heraus, doch es reichte nicht ganz zum Olympia-Gold. Die Weltmeisterin verpasste beim olympischen Zeitfahren die Krönung ihrer Karriere knapp, gewann mit einer starken Vorstellung aber Silber. „Ich bin sehr, sehr glücklich, bei meinen letzten Olympischen Spielen noch einmal eine Medaille gewonnen zu haben“, sagte die 36-Jährige, „ich bin gefahren bis mir schwindelig wurde.“ Arndt musste sich nur der Amerikanerin Kristin Armstrong geschlagen geben, die wie schon vor vier Jahren in Peking triumphierte. Kurz nach ihrem zweiten Gold erklärte die 38-Jährige ihren Rücktritt. „Ich bin jetzt offiziell im Ruhestand“, sagte sie.

Bei der Siegerehrung strahlte Arndt, war gelöst und mit sich im Reinen - trotz der entgangenen Gold-Chance. Stolz präsentierte sie am Geisterschloss von Heinrich VIII. ihr silbern glänzendes Schmuckstück. Ihr Mindestziel hatte sie erreicht, auch wenn der letzte Karrieretraum nicht in Erfüllung ging. In 37:50 Minten bewältigte Arndt die 29 Kilometer mit Start und Ziel am Hampton Court Palace, sie war damit 15 Sekunden langsamer als Armstrong, die neben der Deutschen als große Favoritin galt. Bronze ging an die Dritte des Straßenrennens, Olga Sabelinskaja aus Russland.

Frauen-Bundestrainer Ronny Lauke war voll des Lobes. „Es ist gigantisch, einfach toll“, sagte er. Arndt habe die Strategie umgesetzt und sei „gefahren, wie es sein sollte“. Arndt lag über die gesamte Distanz im Hintertreffen, arbeitete sich aber von Zwischenzeit zu Zwischenzeit nach vorn. Bis auf Armstrong ließ sie alle Konkurrentinnen hinter sich zurück, doch die 38-Jährige war zu stark. Die zweite deutsche Starterin Trixi Worrack aus Cottbus erreichte den neunten Platz.

Arndt hatte zuvor eigentlich nur Gold im Sinn gehabt. „Es gibt nichts Höheres. Das ist das Nonplusultra und wäre das absolute Highlight in meiner Karriere. Es muss das Ziel sein“, hatte Arndt gesagt. Doch auch bei Silber oder Bronze werde sie „nicht in Tränen ausbrechen“. Dass sie seit ihrem WM-Sieg in Kopenhagen kein Zeitfahren mehr gewonnen hatte, änderte an diesem Plan nichts. Vor acht Jahren hatte Arndt in Athen Silber im Straßenrennen geholt, es war die bislang letzte Medaille für den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) auf der Straße gewesen. In Erinnerung blieb dies auch wegen der Stinkefinger-Geste, mit der Arndt damals ihren Ärger über die Nicht-Nominierung ihrer damaligen Lebensgefährtin Petra Roßner kundtat.

In London hatte sie um 13.03 Uhr Orstzeit ihr letztes olympisches Rennen auf der Straße in Angriff genommen. Fest umschloss sie ihren Lenker. stoisch ging ihr Blick nur geradeaus. Arndt fand sofort ihren Rhythmus, ihre Beine bewegten sich ruhig und in flüssigem Takt auf und ab. Dennoch passierte sie den ersten Messpunkt nach etwa zehn Kilometern mit einigen Sekunden Rückstand auf Armstrong auf Platz fünf. Allerdings hatte Arndt schon die vor ihr gestartete Straßen-Olympiasiegerin Marianne Vos im Blick, was ihr zusätzliche Motivation gab. Wenig später rauschte sie an der Niederländerin vorbei, doch die war kein Maßstab.

(abendblatt.de/dpa)