... und was von ihm jetzt zu erwarten ist.

Hamburgs Erzbischof Thissen über den Menschen Ratzinger - ABENDBLATT: Wie verlief Ihre erste Begegnung mit Joseph Ratzinger?

WERNER THISSEN: Das war Anfang der 60er Jahre, als ich Professor Ratzinger in Münster als Student erlebte. Wir waren gewöhnt, daß unsere Professoren altehrwürdige Gestalten waren. Und plötzlich stand da ein gut Dreißigjähriger vor uns. Wir fragten uns: Ist das wirklich unser neuer Professor? Das dachten wir aber nur solange, wie er nicht den Mund aufmachte.

ABENDBLATT: Was geschah?

THISSEN: Als Professor Ratzinger anfing zu lehren, prägte sich uns sofort ein, wie er druckreif redete, ohne Stichworte, einfach aus dem Kopf heraus. Aber das war nicht alles. Wir haben ihn dann bald gebeten, einmal einen Einkehrtag zu halten, damit wir ihn nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von der Spiritualität her kennenlernten. Und da ging das genauso.

ABENDBLATT: Und später?

THISSEN: Ich habe Ratzinger später öfter getroffen. Ich erinnere mich an eine Begegnung auf dem Petersplatz. Er kam wie gewöhnlich mit seiner alten Aktentasche. Ich bin dann auf ihn zugegangen und habe mich noch einmal vorgestellt, und er wußte gleich, wie das damals in Münster war.

ABENDBLATT: Wie erklären Sie den Eindruck der Kühlheit, die er nach Meinung vieler verbreitet?

THISSEN: Die menschliche Situation des Kardinals und jetzt des Papstes ist schwer auf einen Nenner zu bringen. Er ist durch und durch ein Intellektueller. Aber er ist auch durch und durch musisch begabt, und er ist der freundliche Nachbar. Das alles mischt sich, und je nachdem, wie man ihm entgegentritt, kommt das eine oder andere zum Vorschein.

ABENDBLATT: Ist Ratzinger weniger unnahbar, als viele glauben?

THISSEN Ich denke, ja. Da kommt viel von seiner Herkunft durch. Er ist im Grunde seines Herzens ein einfacher herzlicher Bruder.

ABENDBLATT: Betrifft diese Einfachheit auch seine Theologie?

THISSEN: Die verschiedenen Seiten seiner Persönlichkeit werden nach meiner Einschätzung durch seine Spiritualität und tiefe Frömmigkeit zusammengehalten. Dazu gehört auch seine einfache Sprache. Ratzinger wirft nicht mit Fremdwörtern um sich.

ABENDBLATT: Was bedeutet seine Wahl für die Zukunft der katholischen Weltkirche?

THISSEN: Vor allem Kontinuität. Die ergibt sich schon daraus, daß Ratzinger engster Mitarbeiter von Johannes Paul II. war.

ABENDBLATT: Bedeutet Kontinuität dann nicht auch theologischer Konservatismus, wie er am alten Papst kritisiert wurde? Konkret: Wie wird Papst Benedikt XVI. die Fragen des Zölibats und der Empfängnisverhütung behandeln?

THISSEN: Konservare heißt bewahren. Das Glaubensgut der Kirche zu bewahren, ist die Aufgabe eines Papstes auch in allen Turbulenzen der Zeit. Ich bin mir sicher, daß der Zölibat als Grundlinie der Kirche bleibt. Ausnahmegenehmigungen sind ja möglich. Ich habe ja im vergangenen Jahr einen früheren evangelischen Pastor, der verheiratet ist, zum Priester geweiht. Die Erlaubnis trägt die Unterschrift von Joseph Ratzinger.

ABENDBLATT: Und die Empfängnisverhütung?

THISSEN: Es ist eine gute katholische Lehre, daß es dazu ein Gebot gibt. Aber nirgendwo steht geschrieben, daß derjenige, der sich nicht an dieses Gebot halten kann, dazu gezwungen wird. Wir sagen: Jenseits des Könnens ist keiner gehalten. Das entbindet nicht von der Pflicht, mit diesem Thema verantwortungsvoll umzugehen. Die Menschen verstehen das auch immer mehr. Sexualität ist doch keine Frage von Mengenlehre.

ABENDBLATT: Und was bedeutet die Wahl Ratzingers für den deutschen Katholizismus?

THISSEN: Jedenfalls sollten wir nicht so tun, als gäbe es außer den eben behandelten keine anderen Fragen mehr an die Kirche. ABENDBLATT: Wird auch die Ökumene ein strittiges Thema?

THISSEN: Denkbar ist das, aber unter einem bestimmten Blickwinkel. Der neue Papst ist ein Ökumeniker mit Herz. Aber er ist Theologe und will eine Ökumene, die theologisch verantwortbar ist. Wo es Dissenzen gibt, muß geredet und gerungen werden.

ABENDBLATT: Protestanten und Katholiken müssen also aufeinander zugehen?

THISSEN: Es heißt noch mehr: Denn auch die orthodoxe Kirche ist involviert, mit der wir in vielen Dingen mehr übereinstimmen als mit der Kirche der Reformation. Es geht also auch darum, das eine nicht aufs Spiel zu setzen um des anderen willen.