Der Konservative, die Linke, der Jude, der Muslim - sie alle werden wegen ihrer Überzeugung bedroht. Doch keiner gibt der braunen Bedrohung nach.

Hamburg. Die Zahl ist furchterregend: 10 000 Namen und Anschriften haben Ermittler bei der Zwickauer Nazi-Zelle entdeckt. Bei der Erklärung, was es mit diesen Namen wohl auf sich hat, sorgte Jörg Ziercke, der Präsident des Bundeskriminalamts, am Freitag für Verwirrung. Nein, die Liste sei keine "Todesliste", sagte Ziercke. Aber möglicherweise habe sie als eine Art "Planungsgrundlage" für mehrere Morde in den folgenden Jahren gedient.

Andersdenkende, die möglicherweise um ihr Leben fürchten müssen - diese Zeiten schienen in Deutschland seit Langem vorbei. Wie fühlt es sich an, wenn man als Demokrat plötzlich von jemandem zu einem Feind erklärt wird? Wenn man für seinen Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit zu einer potenziellen Zielscheibe gemacht wird?

Hans-Peter Uhl hat dieses Gefühl kennengelernt. Der Münchner Bundestagsabgeordnete schläft schlechter seit dieser Woche, wacht oft schon um fünf Uhr auf. Und auch er hat sich gefragt: "Wieso ausgerechnet ich?" Am Montagmittag klingelte Uhls Telefon, Schaltkonferenz mit dem Innenministerium und den Kriminalämtern. Er sei, teilte man Uhl mit, auch Ziel des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Auf der sichergestellten Liste mit den 88 Namen fanden die Ermittler auch seinen. Kurz darauf klingelte sein Telefon noch einmal. Jerzy Montag war dran. Auch er steht auf der Liste. Ein Grüner, auch aus München. Zwei entfernte Lager, in der Bedrohung durch Neonazis vereint.

In Uhl drang eine Gewissheit durch. Er ist nicht Feind der Rassisten, weil er im Bundestag sitzt. Nein, es geht um die Jahre 1987 bis 1998, in denen Uhl Stadtrat in München war und verantwortlich für die Sicherheitspolitik in der Stadt. Damals ließ er einen sogenannten Revisionistenkongress der NPD im Deutschen Museum verbieten, einen Gedenkmarsch an Rudolf Heß genauso wie eine Kundgebung mit Holocaust-Leugnern, eine Buchhandlung mit rechtsextremem Material ließ er schließen. "Ich habe mich in meinem Leben immer gegen jede Form von Extremismus eingesetzt - egal, ob von rechts oder von links", sagt Uhl heute. Dafür gerät er jetzt ins Visier der Rechten. Aber nun mit allem aufhören? Einknicken? Daran habe er nie gedacht.

Wer mit Uhl spricht, hört Wut in seiner Stimme. "Der Staat ist auf dem rechten Auge nicht blind", sagt Uhl. Die braune Brut müsse verfolgt und hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Uhl ist in diesen Momenten nicht Opfer, nicht der Geschockte. Er ist jetzt wieder der innenpolitische Sprecher.

Der linke Jugendverband "Die Falken" war gewarnt worden. Das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus hatte bei dem Neuköllner Verband angerufen: "Fotos von eurem Jugendzentrum stehen auf der Internetseite des Nationalen Widerstands. Ihr seid Ziel der Nazis." In der Nacht zum 27. Juni 2011 klingelte Mirjam Blumenthals Handy. Die Feuerwehr war am anderen Ende: Das Anton-Schmaus-Haus brannte.

Blumenthal ist 39 Jahre alt, sie sitzt nicht nur im Kreisvorstand der "Falken", sondern engagiert sich auch bei SPD und Gewerkschaft. Seit dem Anschlag, sagt sie, laufen viele der jüngeren Kinder nicht mehr allein durch das kleine Waldstück bis zum Anton-Schmaus-Haus. Blumenthal ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen. Im Klassenzimmer zerkritzelten sie die Hakenkreuze auf den Tischen. Und sie wurde selbst Opfer rechter Gewalt, weil sie sich bei den "Falken" engagierte. Als sie 14 Jahre alt war, schlugen vier Jungs eine Freundin und Blumenthal zusammen. Sie waren kaum älter, trugen Glatze und Bomberjacke.

"Die Brutalität der Zwickauer Neonazi-Gruppe hat mich nicht überrascht", sagt Blumenthal. Jeder, der sich in der Szene auskenne, wisse, dass es gewaltbereite Wehrsportgruppen gebe. "Sie sind international vernetzt und planen auch Morde."

Blumenthal ist enttäuscht von Politikern wie Familienministerin Kristina Schröder. "Man hört von ihr nur plumpe Warnungen vor linken Extremisten. Als unser Haus abgebrannt ist, kam nicht ein Wort des Mitgefühls von ihr." Vor ein paar Tagen bekam Mirjam Blumenthal wieder einen Anruf mitten in der Nacht. Wieder die Feuerwehr. Wieder brannte das Anton-Schmaus-Haus. Es war der 9. November, der Jahrestag der Reichspogromnacht.

Dieter Graumann muss seinen Namen auf keiner Terrorliste suchen und sich um keine Sicherheitsmaßnahmen kümmern: In seinem Amt als Präsident des Zentralrats der Juden gehört er automatisch zum Kreis der gefährdeten Personen. Er habe Personenschützer, sagt er dem Abendblatt, das gehöre leider schon lange zum Amt dazu. Fragen, ob er sich deswegen als Opfer fühle, ob er Angst spüre, wischt der 61-Jährige weg wie Regentropfen vom Mantel. "Wir Juden sehen uns nicht als Opfer, und ich selbst lasse mich auch nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, kann noch lange warten", sagt Graumann. Er fühle sich in Deutschland sicher und persönlich überhaupt nicht bedroht, betont er. "Dieses subjektive Gefühl von Sicherheit lasse ich mir auch nicht von verbrecherischen Faschisten nehmen."

Dass nun auch Politiker ins Fadenkreuz der Rechtsextremisten geraten seien, überrasche ihn nicht. "Wen sollten Faschisten denn mehr hassen als diejenigen, die gegen sie kämpfen?" Es ist, als schöpfe Graumann aus der Bedrohung Kraft. "Wir müssen jetzt erst recht gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufstehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Gefahr weiter verharmlost wird."

An seine erste Morddrohung kann sich Aiman Mazyek noch gut erinnern. Sechs Tage nach den Anschlägen des 11. September öffnete er eine Mail. "Wenn Du am Wochenende zum Beten in die Moschee gehst, werden wir Dir auflauern", schrieb da ein Unbekannter. Damals war Mazyek Pressesprecher des Zentralrats der Muslime in Deutschland, seit fünf Jahren ist er dessen Vorsitzender. Mazyek ist nicht strengreligiös und setzt sich für Toleranz und religiösen Dialog ein. Aber seinen Gegnern reicht es, dass er andersgläubig ist. Mehrere Dutzend Morddrohungen hat er inzwischen erhalten, dazu kommen bis zu 30 Mails oder Anrufe mit Beleidigungen - pro Tag. Rechtsextreme kundschafteten sogar seine Familienverhältnisse aus. "In einschlägigen rechten Internetforen wurde dann zum Beispiel geschrieben, wer meine Mutter ist, was sie macht und wo sie lebt", berichtet Mazyek. "Wir haben die Behörden darauf aufmerksam gemacht, dann hieß es dort: Wir beobachten das."

Ja, er habe manchmal Angst, gesteht Mazyek ein. "Das ist ein sehr beklemmendes Gefühl. Dabei hat meine Familie mehr Angst um mich als ich selber." Er sorge sich allerdings auch sehr um seine Angehörigen. Die hätten ihn gefragt, warum er sich das alles antue. "Aber ich habe zurückgefragt: Was ist die Alternative? Soll ich mich etwa in ein Schneckenhaus verkriechen?"