Dieter Graumann, der neue Präsident des Zentralrats der Juden, über seine künftige Aufgabe, neue Akzente und damit verbundene Probleme.

Berlin/Frankfurt. Fragt man Dieter Graumann nach seiner Lebensmaxime, dann antwortet er mit Erich Kästner: "Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen." Der neue Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland ist also ein Optimist. Zudem ist er deutlich jünger als seine Vorgänger, was in den Monaten vor seiner Wahl - Charlotte Knoblauch hatte bereits im Februar angekündigt, im November nicht erneut für das Amt kandidieren zu wollen - bekanntlich zu einer Dauerdiskussion über die Frage geführt hat, was so ein Generationswechsel wohl bedeuten werde. Einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland? Möglicherweise eine Art Schlussstrich?

Garantiert nicht, sagt Graumann dazu knapp. Und fügt hinzu, dass er natürlich wisse, wie man in Deutschland zum Teil die Wahl des ersten nach Kriegsende geborenen Zentralratspräsidenten im Stillen herbeigesehnt habe. "In der Hoffnung, dass die Erinnerung an den Holocaust bei uns selbst nachließe." Aber das sei angesichts der sechs Millionen Toten nun einmal unmöglich. Allerdings, so Graumann im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt, rege er eine Akzentverschiebung an. "Deutschlands Juden sind so viel mehr als eine Trauergemeinschaft. Wir sollten uns nicht auf die Opferrolle reduzieren oder reduzieren lassen."

Das sagt einer, der Grund genug gehabt hätte, sich in dieser Opferrolle einzurichten. Graumanns Eltern sind 1950 nach Israel ausgewandert. Weil der durch die Konzentrationslager und den anschließenden Todesmarsch geschwächte Vater das Klima nicht vertrug, entschlossen sie sich 1952 schweren Herzens zur Rückkehr nach Deutschland. Aus dem kleinen David wurde Dieter. Er sollte, meinte die Mutter, im Land der Täter nicht als Jude erkennbar sein.

Dieter Graumann spricht gerne von der Zukunft. Auch mit Blick auf die durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion zunehmend heterogenen jüdischen Gemeinden will er nicht die Integrationsprobleme in den Vordergrund stellen, sondern lieber von den Chancen sprechen. "Unsere Gemeinschaft hat sich ja enorm vervielfacht. Ohne diese Menschen wären wir jetzt 10 000 bis 15 000 - jetzt sind wir mehr als 100 000. Das jüdische Leben in Deutschland beginnt sogar zum Teil wieder neu zu blühen, es ist wieder ganz aktiv und putzmunter geworden. Zugegebenermaßen ist dieses neue plurale Judentum auch mit Spannungen verbunden, aber in erster Linie erleben wir einen unglaublichen Perspektivschub."

Tatsächlich wird die Zahl der in Deutschland lebenden Juden inzwischen sogar auf mehr als 200 000 geschätzt. Darin, dass demnach nur die Hälfte unter dem Dach des Zentralrats organisiert wäre, sieht Dieter Graumann nicht das Hauptproblem der nächsten Jahre. "Wie viele von den anderen 100 000 sich tatsächlich zum Judentum bekennen, beziehungsweise wie viele wir davon für uns gewinnen können, weiß ich nicht", sagt der 60-Jährige. "Es ist vielleicht die größere Herausforderung, diejenigen zu behalten, die wir schon haben. Vor allem die jungen." Das sei keine Selbstverständlichkeit. "Im Prinzip haben wir dasselbe Problem wie die christlichen Kirchen: Die Bindungskraft der Religionsgemeinschaften schwindet. Nehmen Sie unsere Synagogen. Die werden immer schöner und immer zahlreicher, aber auch immer leerer. Das heißt, wir müssen um die Herzen der jungen Menschen kämpfen, und das tun wir. Aber das geht nur über religiöse Erziehung und Bildung. Bildung ist ja die stärkste Integrationslokomotive, die es gibt."

Dass nicht nur osteuropäische Juden nach Deutschland kommen, sondern möglicherweise auch einige junge Israelis, die von ihren Eltern angesichts der gefährlichen und verfahrenen politischen Lage zur Auswanderung nach Deutschland ermutigt werden, ist für Graumann kein Gesprächstabu. Jeder Mensch, sagt der Zentralratspräsident dazu, solle selbst bestimmen dürfen, wo er leben wolle. "Und im Übrigen muss man aus deutscher Sicht mal sagen: Wenn Juden nach allem, was geschehen ist, die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder diesem Land und seinen Menschen wieder anvertrauen wollen, dann ist das ein großer Vertrauensbeweis. Ein größeres Kompliment kann man Deutschland doch gar nicht machen."

Die von Israels ehemaligem Staatspräsidenten Ezer Weizman mehrfach an alle deutschen Juden gerichtete Aufforderung, nach Israel zu kommen, ist für Graumann längst historisch. Früher, als er jung gewesen sei, habe man ihn in Israel immer wieder gefragt, wie er denn in Deutschland leben könne, sagt der Zentralratspräsident. Das habe er inzwischen schon viele Jahre lang nicht mehr gehört. "In Israel weiß man nicht nur, dass Deutschland ein guter Freund ist, in Israel hat man auch verstanden, dass jetzt andere Menschen hier leben. Und dass Deutschland alles in allem denn doch ein sehr offenes und tolerantes Land geworden ist. Das wissen, spüren und genießen wir doch alle. Niemand sitzt mehr auf gepackten Koffern. Auch wenn das Glück auch ein paar Kratzer hat."

Dieter Graumann, der verheiratet ist und zwei erwachsene Kinder hat, lebt nach wie vor als Immobilienkaufmann in Frankfurt am Main. Er war viereinhalb Jahre Vizepräsident des Zentralrats, bevor er jetzt ganz an die Spitze aufstieg. Die Familie, sagt Graumann, sei von diesem Schritt nicht begeistert gewesen. "Sie trägt das mit", meint er lächelnd. Und fügt dann noch hinzu: "Aber das Ertragen ist ja auch eine Form von Tragen."