US-Mitarbeiter eines von Deutschland finanzierten Entschädigungsfonds für Holocaust-Opfer sollen die Organisation um 42 Millionen Dollar geschädigt haben.

Wenn es eine Organisation gab, von der man erwarten konnte, dass sie immun gegen Gier und Betrug ist, dann ist es die Claims Conference, die jeden Tag Tausenden armen und älteren Opfern der Nazi-Verfolgung hilft." Wenn ein Staatsanwalt so etwas sagt, dann ist klar: Die Jewish Claims Conference ist nicht immun gegen Gier und Betrug. Die Opfer-Organisation, die deutsche Entschädigungsgelder an Holocaust-Opfer vergibt, ist selbst zum Opfer geworden.

Das, was der New Yorker Staatsanwalt Preet Bharara und die US-Bundespolizei FBI am Dienstag verkündet haben, ist ein schwerer Schlag für alle Opfer des Holocaust. Mitarbeiter der renommierten Claims Conference in New York haben demnach in den vergangenen zehn Jahren mit über 5500 gefälschten Opfer-Biografien mehr als 42 Millionen Dollar (rund 30,5 Millionen Euro) abgezweigt. Die Angeklagten sollen russisch-jüdische Einwanderer dazu gedrängt haben, Mittel aus den Fonds zu beantragen - obwohl diese dazu nicht berechtigt waren. Nachdem das Geld geflossen war, mussten die Geld-Empfänger ihre kriminellen Helfer entlohnen. Das Geschäft mit dem Leid schien perfekt und so einfach.

"Die Fonds, die von der deutschen Regierung eingerichtet wurden, um Holocaust-Überlebenden zu helfen, wurden von Gierigen abgeschöpft und nicht an Berechtigte ausgezahlt", sagt die leitende FBI-Ermittlerin Janice Fedarcyk. Zwei Fonds, die von der deutschen Regierung eingerichtet worden sind, sind betroffen: der Hardship Fund und der Article 2 Fund.

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen 17 Verdächtige erhoben, sechs von ihnen arbeiteten für die Claims Conference. Die meisten von ihnen wurden am Dienstag verhaftet. Ihnen drohen 20 Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe bis zu 250 000 Dollar, wie die Behörden mitteilten. Die Namen der Angeklagten haben die Behörden in einer Pressemitteilung veröffentlicht. An erster Stelle steht der Name von Semen Domnitser, der Chef der beiden Fonds war. Er soll über Jahre hinweg Geld mit den erfundenen Holocaust-Opfern erschlichen haben. Domnitser wurde bereits im Februar entlassen.

Es war die Claims Conference selbst, die sich im Dezember 2009 an die Behörden wandte. Den Verantwortlichen waren verdächtige Parallelen in mehreren Anträgen aufgefallen. Mittlerweile hat auch die Opfer-Organisation ihren internen Ermittlungsbericht veröffentlicht. Zusammen mit den Erkenntnissen der Behörden ergibt sich ein schockierender Eindruck über das Innenleben der Vereinigung.

Der Hardship Fund, eingerichtet im Jahr 1980, zahlt einmalig 3600 Dollar an Menschen aus, die vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion flohen und nach 1965 in den Westen übersiedelten. Der Fonds wurde aufgelegt, weil es jüdischen Holocaust-Überlebenden mit Wohnsitz jenseits des Eisernen Vorhangs unmöglich war, Entschädigungsleistungen zu erhalten. Insgesamt profitierten schon 350 000 Menschen von dem Fonds, eine Milliarde Dollar wurden ausgezahlt.

Wer das Geld beantragen will, muss eine Internierung in einem Getto oder Arbeitslager, die Flucht oder Emigration nachweisen. Kopien von Geburtsurkunden, Diplomen und anderen Dokumenten sind ebenfalls bei der Claims Conference einzureichen.

An dieser Stelle setzten die Betrüger in der Claims Conference an. Um "Kunden" zu erreichen, schalteten sie Anzeigen in russischsprachigen Zeitungen im New Yorker Umland. Viele der erfundenen Opfer stammen aus Brighton Beach in Brooklyn, wo viele russischstämmige Juden leben. Der Ort wird auch "Little Odessa" genannt. Wer eine Entschädigung wollte, sollte sich melden. Den Formularkram erledigten die Betrüger.

Sie organisierten sich Pässe und Geburtsurkunden von tatsächlichen Holocaust-Opfern, fälschten die Dokumente so, dass sie für eine andere Person passten, und reichten sie bei der Claims Conference ein. "Viele der Empfänger der erschlichenen Gelder wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, mindestens eine Person war nicht einmal jüdisch", heißt es in der Presseerklärung des FBI und der New Yorker Staatsanwaltschaft. Die Anträge kamen durch - weil die Mitarbeiter der Claims Conference sie so frisierten, dass die Kriterien erfüllt waren. Mit Verfolgungs-Biografien und historischen Fakten zum Zweiten Weltkrieg kannte man sich aus. Und für alle Eventualitäten, so berichtet es die "Los Angeles Times", wurden Zeitzeugen für 1000 Dollar gekauft, die Falschaussagen gegenüber den Behörden machten.

Ähnlich lief der Betrug beim Article 2 Fund, der 1992 aufgelegt wurde. Mit dem Geld werden Menschen unterstützt, die mindestens 18 Monate vor den Nationalsozialisten unter falscher Identität auf der Flucht waren oder in einem jüdischen Getto leben mussten oder mindestens ein halbes Jahr in einem Konzentrationslager waren. Insgesamt hat der Fonds schon drei Milliarden Dollar an 84 000 Holocaust-Opfer ausgezahlt. Opfer werden mit bis zu 411 Dollar im Monat unterstützt.

In mindestens 658 Fällen wurde das Geld zu Unrecht ausgezahlt, sagen die Ermittler. Sie fanden "frisierte Identifikationsdokumente", in denen Geburtsdatum und Geburtsort gefälscht waren. Manche Verfolgungsgeschichten seien "komplett erfunden". Die Mitarbeiter der Claims Conference schreckten sogar nicht davor zurück, interne Dokumente zu ändern.

Die Sache schien ja auch sicher zu sein: Am Ende zeichnete der Fonds-Chef Domnitser die Anträge ab.

Die "New York Times" hat zwei Beispiel-Fälle recherchiert: eine Frau, die angeblich im Alter von elf Jahren vor den Nazi-Bomben ins heute ukrainische Donezk floh und sich dort bis 1944 versteckt hielt. Ihre Dokumente belegten das. Doch die Papiere waren gefälscht. Zudem hatte die Dame unterschlagen, dass sie einen Bruder hat. Niemand sollte ihre Version bestätigen oder bestreiten können.

Im zweiten Fall beantragte ein Mann Entschädigung für ein Leben im von Hitler-Deutschland besetzten Kiew - obwohl er damals im nicht besetzten Leningrad gelebt hatte.

Doch damit nicht genug: Auch als die Claims Conference interne Ermittlungen einleitete, versuchte das kriminelle Netzwerk noch, sich zu wehren. Im Februar bekam ein Mitarbeiter, der gegen seine Kollegen ermittelte, Morddrohungen - gegen sich und seine Familie.

Der Schaden ist also noch viel höher als die 42 Millionen Dollar, die sich die Claims Conference jetzt zurückholen will. Es geht um die Glaubwürdigkeit einer Institution, die 1951 gegründet wurde und sechs Jahrzehnte lang erfolgreich einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschland und den Juden leistete. Bundeskanzler Konrad Adenauer sagte 1951, die Bundesregierung sei bereit, gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel "eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leidens zu erleichtern".

Das Entsetzen über den Betrug mit dem Leid ist entsprechend groß bei der Claims Conference. "Wir sind bestürzt darüber, dass Menschen denjenigen Menschen Geld stehlen, die Überlebende des schlimmsten Verbrechens der Geschichte geworden sind", sagt Julius Berman, der Vorsitzende der Claims Conference. "Dies ist ein Affront für den menschlichen Anstand." Berman betont, dass seine Institution die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt und die kriminellen Mitarbeiter entlassen habe. Und dass kein Holocaust-Opfer finanziellen Schaden an dem Verbrechen genommen habe.

Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, reagierte tief betroffen: "Diesem Betrug kann ich nur Abscheu entgegenbringen. Es ist widerlich, das Grauen der Schoah für eigensüchtige Geldmacherei zu missbrauchen", sagte sie dem Abendblatt.

Die Bundesregierung teilte gestern mit, dass sie über die Ermittlungen "fortwährend unterrichtet" worden sei. Jetzt prüfe die Regierung, ob sie Schadenersatz verlange, sagte ein Sprecher.

Vielleicht wird die Summe der veruntreuten Gelder noch steigen. Der New Yorker Staatsanwalt Preet Bharara jedenfalls versichert: "Die Untersuchungen gehen weiter."