Der riesige Hurrikan verwandelte die Stadt, die niemals schläft, in eine Geisterstadt. Ganze Viertel wurden evakuiert, U-Bahn- und Busverkehr eingestellt.

Die Stadt, die niemals schläft, wirkte wie ausgestorben. Als in der Nacht zum Sonntag, die ersten Ausläufer des "Monster"-Hurrikans "Irene" über New York City eintrafen, war kaum eine Seele in den Straßenschluchten Manhattans zu sehen. Bürgermeister Michael Bloomberg hatte erstmals in der Geschichte des Big Apple dessen Lebensadern komplett stillgelegt.

U-Bahn, Vorortzüge und Busse stellten den Verkehr ein. Brücken und Tunnel wurden geschlossen. Auf den umliegenden Airports blieben alle Flugzeuge am Boden.

Das Warten auf den Wirbelsturm "Irene" war gespenstisch. McDonald's, Starbucks oder die kleinen Lebensmittelgeschäfte, die sonst 24 Stunden sieben Tage pro Woche die Menschen der Millionenstadt versorgen - sie blieben in dieser Nacht dunkel. Der sonst pulsierende Times Square - leer gefegt, Schaufensterfronten wie bei Bloomingdale oder Macy's - mit Sperrholz-Platten gesichert. Broadway, Fifth oder Madison Avenue - verlassen.

Die flutbedrohten Stadtteile um die Wall Street herum: zwangsevakuiert. Nie zuvor hatte New York solche Sicherheitsvorkehrungen erlebt. 370 000 Anwohner hatten allein in Süd-Manhattan strikte Anordnung bekommen: "Sucht Schutz in höher gelegenen Gebieten." Im benachbarten New Jersey bekamen eine Million Menschen den Evakuierungsbefehl, auf Long Island weitere 400 000.

Und Bürgermeister Michael Bloomberg wagte, was noch kein Bürgermeister vor ihm wagte: Er stellte alle U-Bahn-Linien der gesamten Stadt ein. Er ließ 10 000 Flüge nach und von New York streichen. Nicht ein Bus durfte auf die Straßen und nicht ein Zug in oder aus den Bahnhöfen fahren. Kinos und Broadway-Theater mussten ihre Vorstellungen absagen. Der historische Bahnhof Great Central Station war zum ersten Mal seit seiner Eröffnung geschlossen. So wurde auch dem hartnäckigsten New Yorker klar, dass es der Stadt ernst war - und dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt unmöglich war, Manhattan zu verlassen.

"Better safe than sorry" (Vorsicht ist besser als Nachsicht), war überall zu hören. Doch nicht jeder sah es so. "Die proben hier den Ernstfall für den nächsten Terror-Angriff", unkte Jeff Foulser, ein Fotograf aus Manhattan.

Einzig die vielen Sportbars und Kneipen zeigten Lebenszeichen. Sie luden mit "Irene Party"- Schriftzügen ein, zapften Bier und versorgten ihre New Yorker wie immer mit Hamburgern, Fajitas und Pommes frites. Auf den TV-Bildschirmen in den Bars war nur Hurrikan "Irene" zu sehen. Und sie war unter den Gästen das Gesprächsthema: "Hast du gehört, dass sie so groß wie Europa ist?" Oder: "Sie ist jetzt gerade in Maryland eingetroffen. Immer noch Kategorie 1." Dazu flimmerten auf den Bildschirmen schwarz-weiße Archivaufnahmen von dem sogenannten Long Island Express, dem schwersten Hurrikan, der New York je heimgesucht hatte.

Am 21. September 1938 hatte der Hurrikan der Kategorie 3 (180 km/h) entlang der Küste von New York und Neuengland eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Laut Wikipedia wurden bis zu 57 000 Häuser zerstört, 700 Menschen kamen ums Leben, zwei Milliarden Bäume stürzten um. Der Schaden damals: 306 Millionen Dollar. Das wären heute rund 40 Milliarden!

Sollte "Irene" eine moderne Version des "Long Island Express" werden? Meteorologen warnen, dass der Treibhauseffekt Monster-Hurrikane in New York möglich machen könnte.

Gegen 23 Uhr trat ein total erschöpfter Bürgermeister Bloomberg vor die Kameras und erklärte: "Wer die Evakuierung nicht befolgt hat: Bleiben Sie, wo Sie sind. Es ist zu spät." "Frieren Sie Flaschen mit Wasser ein, solange Sie noch Strom haben", empfahl die Stadt. Und: "Wenn dann der Strom ausfällt, halten die Eisblöcke die Kälte etwas." Auch Bloomberg gab gute Ratschläge: "Halten Sie sich von den Fenstern fern! Nehmen Sie Taschenlampen, keine Kerzen! Es gab schon erste Brände. Und füllen Sie Ihre Badewanne mit Wasser!"

US-Präsident Barack Obama brach am Sonnabend seinen Sommerurlaub ab und besuchte die Zentrale der Katastrophenschutzbehörde FEMA. "Ihr macht einen prima Job", lobte er.

Gestern Morgen gegen 9 Uhr hatte das bange Warten ein Ende. "Irene" schlug in Coney Island auf Land und brachte bis zu 15 Zentimeter Regenfälle mit sich. Im Central Park stand das Wasser zum Teil kniehoch, in anderen Gebieten der Stadt sogar bis zur Hüfte.

Doch die Katastrophe blieb aus. Das "Monster" hatte sich in der Nacht zum Tropensturm abgeschwächt. Statt der befürchteten 135 km/h hatte er in New York nur noch Tempo 100. Der "historische Hurrikan" war zum Unwetter geschrumpft.

Schnell folgten erste Schadensberichte: ein Toter in Connecticut, nachdem eine herabgestürzte Überland-Stromleitung sein Haus in Brand gesetzt hatte. 72 000 New Yorker und 800 000 Menschen auf Long Island ohne Strom. An der gesamten Ostküste (mit 65 Millionen Bewohnern die am dichtesten besiedelte der Welt) saßen 4,5 Millionen Menschen im Dunkeln. In New York waren keine Todesopfer zu beklagen, in den Südstaaten wie North Carolina und Virginia war die Zahl der Sturmtoten in der Nacht zum Sonntag auf mindestens 15 gestiegen. Die meisten Opfer wurden von entwurzelten Bäumen, herabfallenden Ästen oder herumfliegenden Trümmerteilen erschlagen, zum Teil in ihren eigenen Häusern. Doch in New York blieben die Großschäden aus. Weder wurden die U-Bahnen geflutet, noch flogen die Scheiben aus den Wolkenkratzern der Stadt. Lediglich in Staten Island mussten Dutzende Menschen von Dächern gerettet werden, nachdem ihre Häuser überflutet worden waren.

Dafür müssen sich jetzt die verantwortlichen Politiker Kritik gefallen lassen. Haben sie überreagiert und grundlos Angst verbreitet? New Jerseys Gouverneur Christ Christie hatte beispielsweise wortgewaltig orakelt: "Der Schaden könnte die bereits angeschlagene US-Wirtschaft mehrere 10 Milliarden Dollar kosten." Doch inzwischen stellt sich heraus, dass die meisten Kosten durch die Evakuierungsmaßnahmen verursacht wurden - auch wenn die Flutschäden noch unklar sind. "Ein weiterer Bloomberg-Flop", spottete der Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts an der Upper East Side, während er herabgestürzte Äste vom Bürgersteig räumte. Die "Huffington Post" titelte auf ihrer Webseite: "Hurricane Hype".

Ein Beispiel, wie chaotisch die Warnungen waren: Während einige New Yorker aus der Stadt in das nahe gelegene Urlaubsparadies der Hamptons (Long Island) flohen, packten dort viele ihre Sachen, um sich in New York in Sicherheit zu bringen. Viele New Yorker, die sowohl einen Wohnsitz in Manhattan als auch auf in den Hamptons hatten, fühlten sich plötzlich obdachlos.

In den kommenden Tagen wird nicht nur aufgeräumt, sondern auch über die Maßnahmen geredet. War alles übertrieben - oder gab es so wenige Opfer wegen der Sicherheitsmaßnahmen?

Derweil gingen auf den Bahamas die ersten Warnungen vor dem nächsten Tropensturm "José" aus, der schon bald zum Hurrikan wachsen könnte. Wer weiß, ob und wann "José" New York erreicht? Am heutigen Montag jedenfalls soll New Yorker wieder zu altem Leben erwachen. Es kann zwar noch schwierig werden, zur Arbeit zu kommen. Aber die New York Stock Exchange und die anderen Börsen kündigten gestern Abend an, wieder zu öffnen. "Irene" ist Geschichte - das Leben geht im Big Apple geht weiter.