Trotz vehementen Protests der US-Regierung hat die Internetplattform Wikileaks fast 400.000 Geheimdokumente zum Irak-Krieg veröffentlicht.

London/Berlin. Die Abwehr von Angriffen zählt zu den Kernaufgaben des Pentagon. Im Konfliktfall kann das US-Verteidigungsministerium die schlagkräftigste Armee der Welt in Bewegung setzen. Deren Arsenal freilich bleibt wirkungslos, wenn der Angriff nicht mit Waffen erfolgt, sondern mit Informationen. Genauer gesagt: Mit 391.832 geheimen Militärdokumenten über den Einsatz der US-Armee im Irak, die nie für die Öffentlichkeit gedacht waren. Die Internetplattform Wikileaks stellte die US-Feldberichte in der Nacht zum Sonnabend ins Internet. Die US-Regierung musste der Veröffentlichung, die sie energisch zu verhindern versucht hatte, mit hilflosem Zorn zusehen.

Die „New York Times“, der „Spiegel“ und der britische „Guardian“ haben die Dokumente aus den Jahren 2004 bis 2009 im Vorhinein ausgewertet. Die Geschichte des Irak-Kriegs muss nicht neu geschrieben werden, wird aber um viele Details angereichert. Die Unterlagen dokumentieren den blutigen Alltag des Kriegs, sie illustrieren die Hilfslosigkeit der US-Truppen angesichts des Abstiegs des Irak ins Chaos, sie listen in nüchtern-bürokratischem Militärjargon eine lange Reihe von Gefechten und Anschlägen auf. Verfasst wurden die Feldberichte von Soldaten vor Ort, sie wurden dann in der Befehlskette nach oben gereicht.

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Die Dokumente enthalten eine Reihe handfester Erkenntnisse. Aus ihnen geht zum Beispiel hervor, dass die US-Armee von der brutalen Folterung von Gefangenen durch irakische Sicherheitskräfte wusste, in manchen Fällen aber nicht einschritt. Ein irakischer Gefangener „wurde von der irakischen Polizei an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit einem Kabel geschlagen“, heißt es etwa in einem Bericht aus dem Jahr 2008. In anderen Berichten ist von Misshandlungen mit Metallrohren, Holzstangen und Strom die Rede. An Gefangenen seien Brandwunden, Knochenbrüche und Blutergüsse festgestellt worden.

Die Unterlagen dokumentieren auch, dass an Straßensperren mit US-Soldaten hunderte irakische Zivilisten getötet worden sind, oft durch Missverständnisse. Einer internen Aufstellung der Armee zufolge wurden zwischen der Invasion 2003 und Ende 2009 insgesamt etwa 109.000 Iraker getötet, 63 Prozent von ihnen Zivilisten.

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Es sind die vielen Details, welche die Wirkung der Dokumente ausmachen. Ein Feldbericht etwa beschreibt, wie ein US-Soldat das Feuer auf ein Auto eröffnet, darin eine Mutter tötet und ihre drei Töchter verletzt. Die Familie hatte - offenbar von der Sonne geblendet - die Aufforderung zum Halten übersehen. Ein anderer Bericht dokumentiert, wie sich zwei irakische Aufständische den US-Soldaten in einem Hubschrauber ergeben wollten. Die Soldaten fragten beim Stützpunkt um Rat. Die Antwort: Festnahmen im Hubschrauber seien nicht möglich, die kapitulationsbereiten Iraker seien also „immer noch als Ziele“ anzusehen. Sie wurden daraufhin kurzerhand erschossen.

Die wütende Reaktion der US-Regierung auf die Veröffentlichung der Unterlagen, die vermutlich durch eine undichte Stelle in der US-Armee an Wikileaks gelangten, macht deutlich, wie groß die Furcht vor der Sprengkraft solcher Enthüllungen ist. Völlig ungelöst ist die Frage, wie im digitalen Zeitalter Vertraulichkeit zu gewährleisten ist, wenn ein einzelner Mitarbeiter mit ein paar Mausklicks zehntausende Dokumente in die Öffentlichkeit tragen kann.

Im Pentagon hatte seit Wochen ein 120 Mitarbeiter starker Sonderstab die Dokumente ausgewertet und mögliche Schäden untersucht. Das Pentagon stilisierte die Veröffentlichung zu einer moralischen Frage hoch - auch um Wikileaks als unmoralisch hinzustellen. Pentagon-Sprecher Dave Lapan bezeichnete Wikileaks als „ehrlose Institution“. Sein Sprecher-Kollege Geoff Morrell sagte: „Durch die Veröffentlichung von derart sensiblen Informationen setzt Wikileaks weiterhin das Leben unserer Soldaten, ihrer Bündnispartner und der Iraker und Afghanen, die mit uns zusammenarbeiten, aufs Spiel.“