Ein FDP-Maulwurf soll Geheimes aus der Bundesregierung verraten haben. Die Dokumente von WikiLeaks lösen eine diplomatische Krise aus.

Washington/Berlin. „Selten kreativ“ – das ist noch das mildeste der zum Teil vernichtenden Urteile über die Bundesregierung. Die Enthüllungen der Internet-Plattform WikiLeaks mit 250.000 zum Teil geheimen Dokumenten der US-Regierung haben in Deutschland eine bemüht beschwichtigende Reaktion hervorgerufen. Die mutmaßlichen Beurteilungen der US-Regierung über Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Außenminister Guido Westerwelle (FDP) und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) lösen Heiterkeit bei den Bürgern, aber tiefe Verstimmung bei den politischen Akteuren aus. Dabei schwebt auch ein schwerer Vorwurf im Raum: Es gibt, so legen die WikiLeaks-Dokumente nah, einen Maulwurf im Innern der Bundesregierung. Der italienische Außenminister Franco Frattini sagte, die Veröffentlichungen seien „der 11. September für die Weltdiplomatie“.

Niebel dementiert Maulwurf

Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) hat allerdings Berichte zurückgewiesen, ein FDP-Mitglied habe als Informant Interna der schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen an US-amerikanische Stellen in Deutschland weitergegeben. „Ich halte den Vorwurf für geradezu lächerlich. Ich bestreite, dass es einen Informanten gibt“, sagte Niebel in der ARD-Talkshow Anne Will. Niebel sieht das deutsch-amerikanische Verhältnis durch die Veröffentlichungen nicht belastet: „Es wird mit Sicherheit dazu führen, dass man sehr viel genauer überlegt, bei wem man wie offen spricht. Bedeutend ist, dass es das deutsch-amerikanische Verhältnis nicht belasten wird.“

Die Deutschen plaudern zu viel aus

Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, sagte: „Ein Grund, warum ein Diplomat sehr gerne in Deutschland arbeitet ist, dass die Deutschen sehr gesprächig sind. Man kann wirklich alles erfahren, was man will. Man braucht nur ein bisschen freundlich zu sein.“

Die Unterlagen von Wikileaks belegen nach verschiedenen berichten, dass Washington unter anderem Mitarbeiter der Vereinten Nationen ausspionieren lässt, arabische Staaten eine Zerstörung des iranischen Atomprogramms gefordert haben und die USA und Südkorea offenbar über die Folgen eines Zusammenbruchs des Regimes in Nordkorea beraten. Die Dokumente, die laut „Spiegel“ von diesem Montag an veröffentlicht werden sollen, stammen zum größten Teil aus der Zeit von 2003 bis Ende Februar 2010. Bereits im Juli hatte WikiLeaks unter anderem mit dem Magazin kooperiert, als es Zehntausende US-Militärakten über den Krieg in Afghanistan veröffentlichte.

Die nun veröffentlichten Unterlagen seien „der GAU für die amerikanische Außenpolitik“, schrieb der „Spiegel“. Der Grund: Die zum Teil als vertraulich oder geheim eingestuften Depeschen enthielten „heikle Informationen etwa über internationale Waffengeschäfte, aber auch Einschätzungen politischer Entwicklungen oder die Korruption des politischen Führungspersonals“. Sie hielten zudem „Amerikas zuweilen arroganten Blick auf die Welt“ fest, schreibt das Magazin. Auch die Zeitungen „New York Times“ in den USA, der „Guardian“ in Großbritannien, „Le Monde“ in Frankreich und „El País“ in Spanien hatte die Dokumente vorab zur Verfügung gestellt bekommen und am Sonntagabend zum Teil veröffentlicht.

Auch die arabische Welt ist in Aufruhr

In den Unterlagen geht es demnach detailliert um die Befürchtungen der USA, Israels und arabischer Staaten gegenüber dem iranischen Atomprogramm, die Bedenken Washingtons wegen des Atomwaffenarsenals Pakistans und Diskussionen über eine vereinte koreanische Halbinsel als langfristige Lösung für das aggressive Verhalten Pjöngjangs. US-Diplomaten hätten „eine geheime Allianz arabischer Staaten gegen Iran und sein Atomprogramm geschmiedet“, schrieb der „Spiegel“.

Der „Guardian“ berichtete, der saudische König Abdullah habe die USA mehrfach aufgefordert, das Teheraner Atomprogramm mit einem Angriff auf den Iran zu zerstören. Außerdem hätten Vertreter Jordaniens und aus Bahrain offen dazu aufgerufen, das iranische Nuklearprogramm mit allen Mitteln zu beenden. Die politische Führung in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten hätten den Iran als „existenzielle Bedrohung“ betrachtet, schrieb das Blatt.

Die USA ließen auch die Uno ausspionieren

Den Berichten zufolge wurden amerikanische Diplomaten bei den Vereinten Nationen aufgefordert, Daten über Uno-Sekretär Ban Ki-moon, seine Mitarbeiter und Diplomaten anderer Länder auszuspähen. Zu sammeln seien persönliche Kreditkarteninformationen, Vielflieger-Kundennummern, E-Mail- und Telefonverzeichnisse, aber auch „biometrische Daten“ wie Fingerabdrücke und Scans der Augen-Iris sowie „Passwörter für Verschlüsselungen“, zitierte der „Spiegel“ unter anderem aus einem von US-Außenministerin Hillary Clinton abgezeichneten Papier vom Juli 2009.

Große Zweifel sollen die US-Diplomaten an der Verlässlichkeit der Türkei hegen. „Der Spiegel“ berichtet, die türkische Führung sei zerstritten. Außerdem würde Außenminister Ahmet Davutoglu islamistischen Einfluss auf Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ausüben. Dieser habe islamistische Banker in einflussreiche Positionen gehoben und informiere sich fast ausschließlich über Islamisten-nahe Zeitungen.

Westerwelle wird als eitel und amerikakritisch beschrieben

Außerdem belegen die WikiLeaks-Dokumente offenbar, wie kritisch die US-Diplomaten über die Bundesregierung denken. Vor allem Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wird von den Amerikanern negativ beurteilt, wie der „Spiegel“ berichtet. Die Geheimberichte beschrieben ihn als inkompetent, eitel und amerikakritisch. Auch mit Merkel fremdelten die US-Vertreter, intern werde sie in den Berichten „Angela ,Teflon' Merkel“ genannt, weil viel an ihr abgleite. „Sie meidet das Risiko und ist selten kreativ“, heißt es in einem Bericht vom 24. März 2009, wie das Magazin weiter schreibt. Unter den Dokumenten sind allein 1719 Berichte der Botschaft Berlin.

Das Weiße Haus verurteilte die Veröffentlichung eigener diplomatischer Dokumente. WikiLeaks handele „rücksichtslos und gefährlich“ und gefährde nicht nur amerikanische Diplomaten, sagte Sprecher Robert Gibbs. Die Dokumente enthielten offenherzige und oftmals unvollständige Informationen, die kein Ausdruck der Politik Washingtons seien und auch keinen Einfluss auch Entscheidungen hätten.

WikiLeaks-Gründer Julian Assange erklärte, Washington versuche mutmaßliche Beweise zu „schweren Menschenrechtsverletzungen und weiterem kriminellen Verhalten“ der US-Regierung zu vertuschen. Die Regierung von US-Präsident Barack Obama sei „ein Regime, das nicht an die Pressefreiheit glaubt und nicht so handelt, als ob es daran glaubt“.

Ermittlungen gegen WikiLeaks-Gründer Assange

Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, sieht die US-Diplomatie nach der Veröffentlichung teils geheimer Dokumente durch die Internetplattform WikiLeaks in einer schweren Krise. Diplomatie funktioniere auf der Basis von Vertrauen und dieses sei nun gebrochen, sagte er im ZDF. Wenn man jetzt mit amerikanischen Diplomaten spreche, müsse man zweimal überlegen, ihnen etwas zu sagen, sagte Kornblum. Diplomaten müssten in Zukunft anders arbeiten. Das bedeute, sie müssten nicht mehr so viele Einzeldaten sammeln, sondern analytischer arbeiten. Die Ära des vertraulichen Miteinander-Sprechens sei vorüber.

Er sei schockiert, wie einfach es sei, dass solche Daten an die Öffentlichkeit gelangten. Als Konsequenz aus den Terrorangriffen vom 11. September 2001 habe man das Informationssystem geändert, um für eine bessere Kommunikation mehr Stellen Zugang zu verschaffen, erklärte der Ex-Botschafter. Geheime Daten seien nun von sehr vielen Menschen zu lesen. Viele Leute könnten diese Daten herunterladen. Dies sei die Schwäche in diesem System.

Wegen der jüngsten Veröffentlichungen hat die Polizei in Australien Ermittlungen gegen den WikiLeaks-Gründer Julian Assange aufgenommen. Es werde geprüft, ob australische Gesetze gebrochen wurden, sagte Justizminister Robert McClelland. Von einer Aufforderung der USA, Assange seinen australischen Pass zu entziehen, sei ihm aber nichts bekannt. Es gebe „möglicherweise eine Reihe von Strafgesetzen“, gegen die WikiLeaks mit der Veröffentlichung von mehr als 250.000 teils geheimen Unterlagen des US-Außenministeriums verstoßen haben könnte, sagte McClelland. Ministerpräsidentin Julia Gillard hatte die geplante Enthüllung vergangene Woche als rücksichtslos und möglicherweise schädlich für die Sicherheitsinteressen Australiens verurteilt.