Todesangst: Geiseln kurz vor dem Kollaps. Zu essen gabs nur Schokolade. Und etwas Wasser.

Moskau. Die russischen Behörden richten sich darauf ein, dass die Geiselnahme in Moskau noch mehrere Tage dauern wird. Die Zuschauer und Schauspieler in dem Musical-Theater aber schienen schon am zweiten Tag des brutalen Überfalls tschetschenischer Rebellen am Ende ihrer Kräfte angelangt zu sein. Die Lage in dem Gebäude ist dramatisch. "Die Geiseln sind kurz vor einem Nervenzusammenbruch", klagte eine der Gefangenen, Maria Schkolnikowa, über Mobiltelefon dem Radiosender "Echo Moskau". Unmittelbar nach der Erstürmung des Theaters hatten die schwer bewaffneten Rebellen eine 20-jährige Russin durch Schüsse in den Oberkörper getötet. Offenbar hatte die junge Frau versucht zu fliehen. Nach einer langen Nacht in wachsender Todesangst gab es in dem Gebäude kaum noch etwas zu essen. Die Geiseln hätten nur etwas Wasser und Schokolade bekommen, sagte Schkolnikowa. Die Freigelassenen wirkten völlig erschöpft. Schon am Mittwochabend hatten etwa 100 Frauen und Kinder das Gebäude verlassen können, weinend und am ganzen Körper zitternd. Mehrere Geiseln appellierten über Mobiltelefon eindringlich an die russischen Behörden, keine Gewalt einzusetzen. Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsausschusses im russischen Parlament, Gennadi Gudkow, versicherte, eine solche Aktion sei nicht geplant. Dennoch hält sich die Anti-Terroreinheit "Alpha" für einen Sturm bereit. Das Theater in einem Arbeiterviertel im Südosten von Moskau - das ehemalige "Haus der Kulturen" - hat 1163 Plätze, von denen am Mittwoch 711 für die Aufführung des populären Musicals "Nord-Ost" verkauft waren. Das Gebäude an der U-Bahn-Station Dubrowka ist ein für Musical-Zwecke umgebautes Kulturhaus einer Kugellagerfabrik. In dem weitläufigen Komplex gibt es eine Vielzahl von Korridoren und Gängen, die eine vollkommene Überwachung beinahe unmöglich machen. Für das satirische Flieger-Musical wurde eine technisch hochmoderne Drehbühne installiert. Höhepunkt des über Monate ausverkauften Stücks ist die "Landung" eines originalgetreuen Bombers aus dem Zweiten Weltkrieg, der auf die Bühne herabgelassen wird. Das Musical "Nord-Ost" ist mit Kosten in Höhe von vier Millionen Euro die bislang teuerste Produktion in Russland. Nach Angaben von Polizeisprecher Waleri Gribakin befanden sich bei der Erstürmung des Gebäudes gut 700 Menschen in dem Theater. "Versteht ihr nicht, was los ist?", herrschte einer der Rebellen die Zuschauer unmittelbar nach dem Überfall während des zweiten Aktes an. "Wir sind Tschetschenen!" Einige von ihnen seien die Witwen von tschetschenischen Kämpfern, heißt es auf einer Web-Site der Nationalbewegung. Dort nennen sich die Geiselnehmer "Smertniki" - todesbereite Kämpfer. Sie hätten nichts mehr zu verlieren, da ihre Angehörigen bereits tot seien. Derweil spielt sich draußen vor der Tür das zweite Drama ab. Dort harren verzweifelte Angehörige aus. Eine ältere Frau mit zerzauster Frisur hält das Foto eines Mädchens hoch. "Meine Tochter ist da noch drin!", ruft die Moskauerin. Die Angst seht ihr ins Gesicht geschrieben. Viele Verwandte haben bei nasskaltem Schneeregen bereits die ganze Nacht in der Melnikowa-Straße verbracht. Sie wurden von Anrufen ihrer Lieben aufgeschreckt, die sich eigentlich bei einer Musicalvorführung vergnügen wollten und sich plötzlich in einem Drama wiederfanden, bei dem es um Leben und Tod geht. Den Angehörigen auf der Straße machen nicht nur die Waffen und der Sprengstoff der Rebellen im Gebäude Angst. "Was geschieht, wenn die Spezialeinheiten das Musiktheater stürmen?", fragen sich viele. In Todesangst rufen immer wieder Geiseln über Mobiltelefon Bekannte und Verwandte an. "Bitte, bitte nicht stürmen, wir werden sonst alle in die Luft gesprengt", sagt ein gefangener Junge übers Telefon. Psychologen und Polizisten fordern die Angehörigen auf, in einer nahegelegenen Turnhalle abzuwarten. "Es wird schon gut gehen", redet eine Betreuerin ihnen beruhigend zu. Für die Öffentlichkeit ist die Geiselnahme ein Schock. "Das kann im Ausmaß nur mit der Tragödie in New York verglichen werden", sagt der Parlamentsabgeordnete Boris Nemzow. "Die Situation ist jetzt extrem."