Die Teilrepublik Russlands erklärte 1991 ihre Unabhängigkeit. Seither liefern sich Rebellen mit Moskau erbitterte Kämpfe.

Hamburg. Offiziell herrscht in Tschetschenien längst Frieden. Der Kreml räumte allenfalls einzelne "anti-terroristische Operationen" zur "Vernichtung" versprengter Rebellenverbände ein. Ein tschetschenisches Kommando hat diese Darstellung jetzt brutal widerlegt. Das Geiseldrama von Moskau erinnert die Weltöffentlichkeit an einen im Zuge des weltweiten Kampfes gegen den Terror beinahe vergessenen Krieg, der im Nordkaukasus mindestens 80 000 Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert hat. Die rebellischen Stämme der Kaukasus-Region erschüttern seit den blutigen Unterwerfungskriegen der Zaren vor etwa 200 Jahren immer wieder die russische Innenpolitik. Vor allem der Kampf der mehrheitlich moslemischen Tschetschenen, die den größten Teil der Kämpfer im "Heiligen Krieg" (Dschihad) gegen die Zaren-Truppen stellten, ist Legende. Sowjet-Diktator Josef Stalin machte mit den Aufständischen 1944 kurzen Prozess und ließ rund eine Million Menschen, meist Tschetschenen, deportieren. Die Überlebenden durften erst von 1956 an zurück. Mit dem Zerfall der Sowjetunion brach der Konflikt wieder offen aus. Die russische Teilrepublik Tschetschenien, so groß wie Schleswig-Holstein, erklärte 1991 ihre Unabhängigkeit - worauf allein im Kaukasus drei weitere Republiken (Dagestan, Inguschetien und Nord-Ossetien) Recht auf Selbstbestimmung forderten. Für Moskau stand der Fortbestand der Russischen Föderation auf dem Spiel. Und es galt, im Nordkaukasus den Zugang zu den riesigen Erdölfeldern am Kaspischen Meer zu verteidigen. Die Folge: der erste Tschetschenienkrieg, der im Dezember 1994 begann und zwei Jahre später mit einer schmachvollen Niederlage der russischen Truppen endete. 1997 unterzeichneten der damalige russische Staatschef Boris Jelzin und der als gemäßigt geltende tschetschenische Präsident Aslan Maschadow schließlich ein Friedensabkommen, das Autonomie und Verhandlungen über eine Unabhängigkeit versprach. Dazu kam es nie. Stattdessen versank die abtrünnige Kaukasusrepublik rasch in Chaos und Anarchie. Die Fundamentalisten, die von einem Gottesstaat im gesamten Nordkausus träumten, führten die grausame Rechtsprechung nach der islamischen Scharia ein - und finanzierten sich vor allem durch Drogenhandel, Entführungen, Erpressungen und den Verkauf von Erdöl, gestohlen aus den Pipelines, die von Aserbaidschan über das Gebiet von Dagestan und Tschetschenien zum russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk führen. Gut zwei Jahre sah Moskau dem Treiben, abgesehen von einzelnen Grenzscharmützeln, tatenlos zu. Dann überfielen tschetschenische Rebellen die Vielvölkerprovinz Dagestan, um auch dort den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen zu entfachen. Im August und September 1999 erschütterten zudem fünf schwere Bombenanschläge - die Moskau ohne Beweise Tschetschenen zuschrieb - mit 300 Toten Russland. Startschuss für den zweiten Tschetschenienkrieg. Im Oktober marschierten 100 000 russische Soldaten in Tschetschenien ein. Die Kämpfe wurden mit unerbittlicher Härte geführt, die Hauptstadt Grosny ("die Schreckliche") versank endgültig in Schutt und Asche. Diesmal gelang es den russischen Truppen, die Rebellen aus den Städten zu vertreiben. Ein Sieg war dies nicht. Hingegen ebnete der neue Feldzug dem erst im August 1999 von Jelzin zum Premier ernannten Ex-Geheimdienstchef Wladimir Putin, bis dato politisch ein unbeschriebenes Blatt, den Weg in den Kreml. Die russische Bevölkerung rief nach der harten Hand gegen die Kaukasier, verächtlich "Tschornyje", die "Schwarzen" genannt. Ausbleibende Erfolge auf dem Schlachtfeld änderten zunächst nichts an Popularität Putins, als der Kriegsherr im März 2000 zum Kremlherrscher gewählt wurde. Mit der Eskalation des Partisanenkrieges der Hinterhalte und Anschläge, auf die sich die Rebellen verlegt haben, wurde jedoch erste Kritik laut. Inzwischen fordern immer mehr russische Politiker - auch angesichts der Vorwürfe, russische Soldaten verübten in Tschetschenien schwerste Menschenrechtsverletzungen - Verhandlungen mit den Rebellen. Putin schließt dies kategorisch aus. Im Gegenteil. Die russische Streitmacht von 80 000 Mann in Tschetschenien ist seit gestern in erhöhter Kampfbereitschaft.