Taktik: Wenn die US-Truppen die Verteidigungsringe nicht sprengen können, droht der blutige Straßenkampf

Hamburg. Die nächsten 24 bis 72 Stunden werden für den weiteren Verlauf des Irak-Krieges entscheidend sein. Darüber sind sich führende Militärexperten einig. Die rasch vorstoßende 3. US-Infanteriedivision trifft dann vor Bagdad auf den harten Kern der irakischen Truppen: die Republikanischen Garden. Wenn es den Amerikanern gelingt, die mehrfach gestaffelten äußeren Verteidigungsringe um die Fünf-Millionen-Metropole aus der Luft zu zerschlagen, könnten sich Saddam Husseins Elitetruppen im Inneren der Metropole ergeben - so lautet zumindest das Kalkül der US-Generale. Falls diese Strategie jedoch scheitert, drohen zwei unerfreuliche Alternativen: Die Modelle Stalingrad (Häuserkampf) und Leningrad (Belagerung). "Im ersten Golfkrieg 1991 stießen die alliierten Bodentruppen sofort auf die irakische Armee, die sich weit vorwärts positioniert hatte und zertrümmerten sie buchstäblich nach kurzem Kampf", erklärt Ian Kemp, Militärexperte des renommierten britischen Fachblattes "Jane's Defence Weekly" dem Hamburger Abendblatt. "Diesmal ist es anders: Der militärische Schwerpunkt in der alliierten Strategie liegt erst bei Bagdad" - also fast 500 Kilometer vom Verfügungsraum in Kuwait entfernt. Nun komme den Apache AH64 "Longbow"-Kampfhubschraubern und den Erdkampfunterstützungsflugzeugen A-10 "Warthog" und AC-130 "Spooky" die entscheidende Rolle zu. Wenn es ihnen gelinge, die äußeren Stellungen der Garden zu vernichten, könnte die Lage für die 25 000 Mann der irakischen Elitetruppen im Inneren der Stadt unhaltbar werden, so Kemp. "Die Alliierten wissen, dass Saddam sie in ein irakisches Stalingrad locken will - und sie wollen das natürlich vermeiden", sagt der Experte. Die Alternativen wären eine Belagerung und das Abschneiden der Stadt von Wasser und Versorgung - mit dramatischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. "Der Aufmarsch deutet klar auf ein Einschließen von Bagdad hin", meint Kemps Hamburger Kollege Götz Neuneck. "Dann ist die entscheidende Frage: Bricht das Regime Saddam zusammen, wenn der Druck in der belagerten Stadt immer weiter steigt, oder kämpfen die Iraker weiter", sagt Neuneck dem Abendblatt und warnt, man solle "die Araber nicht unterschätzen. Die ganze arabische Welt wertet diesen Krieg als einen Angriff auf ein arabisches Land und ist entsprechend kampfbereit." Neuneck sieht zudem eine gefährliche Überdehnung der fast 500 Kilometer langen alliierten Versorgungslinien. "Die Iraker werden sie wohl mit Guerillataktiken attackieren - was den Krieg verlängert", sagt der Experte vom Institut für Friedensforschung. Damit drohe die Strategie von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, mit relativ wenig Truppen, viel Technologie, massiven, einschüchternden Punktangriffen (shock and awe) und einem blitzartigen Durchstoßen gepanzerter Verbände auf Bagdad die Schlacht rasch zu entscheiden, zu scheitern. "Die Rumsfeld-Doktrin ist momentan in argen Schwierigkeiten", sagt Neuneck. Auch begegne die Bevölkerung den Amerikanern keineswegs wie Befreiern - wie die neokonservative Führung in Washington erwartet habe. Ein Desaster sei auf Grund dieser Fehleinschätzungen nicht auszuschließen. Auch der US-Oberkommandierende im Irak, General Tommy Franks, habe klar die Doktrin des Ex-Generalstabschefs und derzeitigen US-Außenministers Colin Powell - wesentlich mehr Truppen, behutsameres Vorgehen - bevorzugt. Rumsfeld hatte sich gegen Powell jedoch durchgesetzt und einen "rolling war" befohlen - bei dem man Verstärkungen nach Bedarf "anrollen" lassen könne. Ian Kemp sieht ebenfalls "Probleme" bezüglich der US-Taktik. So mache sich auch das Fehlen der Nordfront nach dem türkischen Veto gegen eine Stationierung von 62 000 US-Soldaten schmerzhaft bemerkbar. Die für den Angriff auf Bagdad vorgesehene 4. US-Infanteriedivision sei "eine der modernsten Einheiten der USA und unglaublich kampfstark". Ein Zangenangriff aus Norden und Süden hätte die Iraker in Bedrängnis gebracht, meint Kemp, nun aber müsse der Angriff fast ausschließlich aus einer einzigen Richtung erfolgen.