Berlin. DGB-Chef Reiner Hoffmann sorgt sich um die Zukunft seiner Partei. In einer großen Koalition müsse die SPD wieder mehr Konflikte wagen.

Es waren zwei Redner, die vor zwei Wochen auf dem SPD-Parteitag entscheidend dazu beitrugen, dass die Sozialdemokraten dem Einstieg in Koalitionsverhandlungen mit der Union zustimmten. Die eine Rednerin war Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles. Der andere Redner war der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann. Sieben Minuten lang beschwor er die Delegierten, endlich die in den Gesprächen mit der Union erzielten Erfolge zu sehen.

Herr Hoffmann, Sie sind SPD-Mitglied. Verstehen Sie Ihre Partei noch?

Reiner Hoffmann: Ja, klar.

Wirklich? Bei all den Kehrtwendungen und dem Widerstand gegen eine große Koalition?

Hoffmann: Es war richtig, dass sich die SPD entschieden hat, Koalitionsverhandlungen mit der Union zu führen. Die Gewerkschaften unterstützen das.

Sie haben auf dem Parteitag im Januar gesagt, die SPD habe in den Sondierungen mehr durchgesetzt, „als Jamaika je hinbekommen hätte“. Warum erkennt das in der SPD niemand?

Hoffmann: Das frage ich mich auch. Die SPD guckt nicht genau hin. Sie sieht nicht, was sie in den vergangenen vier Jahren in der großen Koalition erreicht hat. Sie sieht auch nicht, was sie in den Sondierungen jetzt erreicht hat. Ich verstehe ja den Wunsch, sich zu regenerieren. Aber: Nachdem sich die FDP bei den Jamaika-Verhandlungen in die Büsche geschlagen hat, kann nur die SPD für eine stabile Regierung sorgen. Sie muss sich der Verantwortung stellen. Die SPD war immer eine Europa-Partei. Sie muss mithelfen, dass Europa in den nächsten Monaten sozialer und solidarischer wird.

Parteichefs zuversichtlich vor entscheidenden Groko-Verhandlungen

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    Redet die SPD ihre Erfolge schlecht?

    Hoffmann: Sie muss selbstbewusster auftreten. Eine Partei mit einem Wahlergebnis von 20,5 Prozent kann nicht 100 Prozent ihres Wahlprogramms durchsetzen. Aber das, was jetzt schon auf dem Tisch liegt, ist mehr wert als die 20,5 Prozent, die die SPD von den Wählern am 24. September erhalten hat.

    Welchen Anteil hat Martin Schulz an der Lage der SPD?

    Hoffmann: Die schlechte Lage ist nicht einer einzigen Person zuzuordnen.

    Er hat aber einen Anteil?

    Hoffmann: Als Vorsitzender hat man immer Verantwortung, das geht mir beim DGB nicht anders. Die SPD verliert gerade ihr Selbstbewusstsein. Das hat sie nicht verdient.

    Das sind die Verlierer des Jahres in der Politik

    In einer exklusiven Umfrage für unsere Redaktion hat das Meinungsforschungsinstitut Kantar Emnid nach den Verlierern des Jahres unter den Politikern gefragt. Markus Söder schnitt dabei noch am besten ab. Nur 23 Prozent der Befragten sehen den CSU-Mann als einen Verlierer.
    In einer exklusiven Umfrage für unsere Redaktion hat das Meinungsforschungsinstitut Kantar Emnid nach den Verlierern des Jahres unter den Politikern gefragt. Markus Söder schnitt dabei noch am besten ab. Nur 23 Prozent der Befragten sehen den CSU-Mann als einen Verlierer. © REUTERS | MICHAELA REHLE
    Neben Söder blieb nur ein weiterer unter der 40-Prozent-Hürde: Cem Özdemir. Den Bundesvorsitzenden der Grünen sehen nur 34 Prozent der Befragten als Verlierer an. 45 Prozent werten ihn gar als Gewinner – Top-Wert in unserer Umfrage.
    Neben Söder blieb nur ein weiterer unter der 40-Prozent-Hürde: Cem Özdemir. Den Bundesvorsitzenden der Grünen sehen nur 34 Prozent der Befragten als Verlierer an. 45 Prozent werten ihn gar als Gewinner – Top-Wert in unserer Umfrage. © dpa | Sebastian Gollnow
    Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner hat nach dem Aus der Jamaika-Verhandlungen an Zustimmung verloren. 40 Prozent der Befragten sehen in dem Mann, der die FDP zurück in den Bundestag geführt hat, einen Verlierer.
    Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner hat nach dem Aus der Jamaika-Verhandlungen an Zustimmung verloren. 40 Prozent der Befragten sehen in dem Mann, der die FDP zurück in den Bundestag geführt hat, einen Verlierer. © dpa | Michael Kappeler
    Nur wenig besser kommt Sigmar Gabriel (SPD) weg: Den früheren SPD-Chef werten 41 Prozent als Verlierer.
    Nur wenig besser kommt Sigmar Gabriel (SPD) weg: Den früheren SPD-Chef werten 41 Prozent als Verlierer. © dpa | Michael Kappeler
    AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland führte erstmals eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag. Dennoch wird von 42 Prozent der Befragten als Verlierer gesehen, ebenso wie . . .
    AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland führte erstmals eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag. Dennoch wird von 42 Prozent der Befragten als Verlierer gesehen, ebenso wie . . . © REUTERS | FABIAN BIMMER
    . . . Andrea Nahles. Die neue SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag ist eine der wenigen, die trotz der SPD-Schlappe gefestigt erscheinen bei den Sozialdemokraten.
    . . . Andrea Nahles. Die neue SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag ist eine der wenigen, die trotz der SPD-Schlappe gefestigt erscheinen bei den Sozialdemokraten. © dpa | Michael Kappeler
    Sahra Wagenknecht belegt Platz vier im Ranking der größten Verlierer: 43 Prozent der Befragten sind der Meinung, die Linken-Spitzenfrau habe 2017 an Rückhalt eingebüßt.
    Sahra Wagenknecht belegt Platz vier im Ranking der größten Verlierer: 43 Prozent der Befragten sind der Meinung, die Linken-Spitzenfrau habe 2017 an Rückhalt eingebüßt. © dpa | Michael Kappeler
    Wie die anderen Chefs der GroKo-Parteien wird auch die Kanzlerin kritisch gesehen. Angela Merkel ist in den Augen von 53 Prozent der Befragten eine Verliererin.
    Wie die anderen Chefs der GroKo-Parteien wird auch die Kanzlerin kritisch gesehen. Angela Merkel ist in den Augen von 53 Prozent der Befragten eine Verliererin. © dpa | Boris Roessler
    Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat vor allem in Bayern an Rückhalt verloren, Markus Söder wird immer wieder als sein Nachfolger an der Parteispitze gehandelt. 61 Prozent der Teilnehmer unserer Umfrage werten den CSU-Chef daher als Verlierer.
    Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat vor allem in Bayern an Rückhalt verloren, Markus Söder wird immer wieder als sein Nachfolger an der Parteispitze gehandelt. 61 Prozent der Teilnehmer unserer Umfrage werten den CSU-Chef daher als Verlierer. © dpa | Sven Hoppe
    Unrühmlicher Gewinner dieses Rankings: der SPD-Vorsitzende Martin Schulz. Hoch geflogen war der frühere EU-Parlamentspräsident nach der Ablösung von Sigmar Gabriel, dann aber auch wieder tief gefallen bis zur Bundestagswahl. Für 67 Prozent der von uns Befragten macht ihn das zu einem Verlierer.
    Unrühmlicher Gewinner dieses Rankings: der SPD-Vorsitzende Martin Schulz. Hoch geflogen war der frühere EU-Parlamentspräsident nach der Ablösung von Sigmar Gabriel, dann aber auch wieder tief gefallen bis zur Bundestagswahl. Für 67 Prozent der von uns Befragten macht ihn das zu einem Verlierer. © dpa | Michael Kappeler
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    Und der Vorsitzende stärkt das Selbstbewusstsein nicht?

    Hoffmann: Nicht nur Martin Schulz muss die Partei aufrichten. Wir haben Landesvorsitzende, Ministerpräsidenten. Alle müssen deutlich machen: Es ist wichtig, dass die SPD Verantwortung übernimmt.

    Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft der SPD? In den Umfragen rutscht sie immer weiter ab. In einzelnen Bundesländern ist sie gleichauf mit der AfD.

    Hoffmann: Ich mache mir große Sorgen. Die SPD ist zwar nicht in ihrem Bestand gefährdet. Die Frage ist aber erlaubt, ob sie mit 20 Prozent oder weniger noch eine Volkspartei ist. In Europa liegen viele sozialdemokratische Parteien am Boden. Die französischen Sozialdemokraten zerfleischen sich. Dieses Schicksal wünsche ich der SPD nicht.

    Wie lässt sich das verhindern?

    Hoffmann: Wir brauchen die offene Auseinandersetzung, die Zuspitzung. Die SPD muss Konflikte auch in einer Koalition wagen und ihre Positionen deutlich machen.

    Was würde passieren, wenn die SPD nicht in die große Koalition gehen würde?

    Hoffmann: Dann bekämen wir Neuwahlen. Am Ende wäre wieder nur Jamaika oder eine große Koalition möglich. Es könnte sogar gar nicht erst für eine große Koalition reichen, weil die SPD noch weiter verliert. Das kann keiner wollen.

    Die SPD hat gerade hart darum gekämpft, dass Flüchtlinge ihre Familie nachholen können. Glauben Sie, dass das das Hauptthema für Sozialdemokraten und für Ihre Leute ist?

    Hoffmann: Es gibt das Grundrecht auf Asyl und daraus abgeleitet die humanitäre Verpflichtung, den Familiennachzug zu ermöglichen. Es ist ja nicht die SPD, die um dieses Thema streitet, sondern die CSU, die sich nach rechts abgrenzen will. Dabei wirft sie ihre eigenen Werte über Bord und entwertet das C in ihrem Namen.

    Ein anderer Konfliktpunkt ist die Befristung von Arbeitsverträgen. 92 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten unbefristet. Warum ist die Abschaffung von grundlos befristeten Jobs so wichtig?

    Hoffmann: Fast die Hälfte aller neuen Arbeitsverträge ist befristet. Das trifft vor allem junge Menschen. Es gibt gute Gründe für Befristungen: Man kann zum Beispiel nicht Teilzeitarbeit ermöglichen und dann nicht die dadurch anfallende Arbeit für einen begrenzten Zeitraum ersetzen. Aber Befristungen ohne sachlichen Grund darf es nicht mehr geben.

    Der Anteil der befristeten Jobs im öffentlichen Dienst ist größer als in der Privatwirtschaft. Soll der Staat selbst mit gutem Beispiel vorangehen?

    Hoffmann: Die Bundesländer müssen den ersten Schritt machen. Wir haben ein großes Problem an den Hochschulen, wo Menschen bis ins 45. Lebensjahr hinein mit befristeten Arbeitsverträgen konfrontiert sind. Die Länder müssen damit Schluss machen und nur noch unbefristete Arbeitsverträge anbieten. Das ist wie in der Industrie: Kein Unternehmer weiß, ob er neue Aufträge bekommt, er braucht aber sein Personal. Eine Hochschule weiß auch nicht, ob sie ein neues Projekt bekommt. Aber sie weiß, dass die Forschung weitergehen muss. Also: Weg mit der Befristung an Hochschulen. Das ist einfach nicht sinnvoll.

    Union und SPD wollen die Sozialversicherungsbeiträge nicht über 40 Prozent vom Bruttolohn steigen lassen. Ist so eine Grenze richtig?

    Hoffmann: Solch eine Grenze ist hochproblematisch. Wenn die entsprechenden Ausgaben überschritten werden, besteht die Gefahr, dass Leistungen der Sozialversicherungen gekürzt werden. Davon sind immer Menschen mit wenig Einkommen betroffen, weil sie die Leistungen nicht selbst zahlen können.

    Als Arbeitnehmervertreter müssten Sie aber Interesse haben, dass vom Bruttolohn möglichst viel übrig bleibt.

    Hoffmann: Richtig. Deshalb sind wir froh, dass die Arbeitgeber wieder die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge zahlen werden.

    Eine Entlastung der Arbeitnehmer wird es mit einer großen Koalition aber nicht geben. Von allen Steuerkonzepten, mit denen Wahlkampf gemacht wurde, wird keines umgesetzt.

    Hoffmann: Das ist total enttäuschend. Wir haben riesigen Investitionsbedarf. Das Geld dafür bekäme man, indem das Steuersystem in Deutschland gerechter würde. Richtig ist aber auch: Das Kindergeld soll erhöht werden und Kitas sollen gebührenfrei werden. Das ist nicht zu unterschätzen. Da muss man auf das Kleingedruckte im Koalitionsvertrag warten.

    Themenwechsel: Das Statistische Bundesamt hat ausgerechnet, dass der Mindestlohn im Januar 2019 auf 9,19 Euro steigen könnte. Reicht das?

    Hoffmann: Langsam! Zur Höhe des Mindestlohns macht die unabhängige Mindestlohnkommission einen Vorschlag. Richtig ist, dass der sich an der Entwicklung der Löhne orientiert. Die 9,19 Euro, die das Statistische Bundesamt errechnet hat, sind also ein Richtwert. Die Kommission muss aber auch die Lage am Arbeitsmarkt und in der Gesamtwirtschaft berücksichtigen.

    Das bedeutet?

    Hoffmann: Die Mindestlohnkommission kann von der Entwicklung der Löhne nach unten und nach oben abweichen. Wir haben aktuell eine exorbitant gute wirtschaftliche Situation und einen extrem stabilen Arbeitsmarkt. Wir können uns auf einen höheren Mindestlohn einigen als die 9,19 Euro, die sich aus der Entwicklung der Löhne ergeben.

    Wo könnte der genau liegen?

    Hoffmann: Mittelfristig muss der Mindestlohn existenzsichernd sein.

    Die SPD fordert zwölf Euro. Wer soll das bezahlen?

    Hoffmann: Gucken Sie sich an, was 2015 nach der Einführung des Mindestlohns passiert ist. Die vorhergesagte Massenarbeitslosigkeit ist ausgeblieben.

    Die IG Metall kämpft derzeit für die 28-Stunden-Woche. Ist das ein Modell, das Schule machen kann?

    Hoffmann: Menschen wollen heute mehr Souveränität über ihre Zeit. Die IG Metall macht jetzt einen wichtigen Schritt in diese Richtung. Das Thema ist hoch relevant. Was die Arbeitgeber leider nicht verstehen: Der Lohnausfall muss in einem gewissen Umfang kompensiert werden, vor allem für untere Einkommensgruppen.

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      Der Konflikt eskaliert. Sehen Sie die Chance für eine Einigung?

      Hoffmann: Eine Einigung ist jederzeit möglich. Die Arbeitgeber müssen entscheiden, ob sie bereit sind für einen Tarifabschluss.

      Kann Deutschland sich einen Streik leisten?

      Hoffmann: Klar. Ich sehe nicht, dass die Wirtschaft durch einen unbefristeten Streik kollabieren würde. Ob sich die Arbeitgeber das leisten können, müssen sie selbst beantworten.